Die Legende vom glühenden Wald

Vor fast zwanzig Jahren kam es in Tschernobyl zum GAU. Die Folgen sind noch immer zu spüren, der Betonschutzmantel ist undicht, aber immerhin lässt sich die Katastrophe im Computerspiel vermarkten. Von Christina Rietz

Von radioaktivem Dunst in Betonruinen umgeben, bewaffnet bis an die Zähne und in orangefarbenem Strahlenschutzanzug kämpft sich ein Wissenschaftler durch die Hölle, die vormals Tschernobyl hieß. Auf seinem Weg begegnet er immer wieder menschenähnlichen Gestalten, die sich beim näheren Hinsehen als blutige, am Boden kriechende, sabbernde Zombies entpuppen. Unverdrossen greift er zum Maschinengewehr und bläst den schlabberigen Untoten ihr Ich-rieche-Menschenfleisch-Grinsen vom sowieso schon arg deformierten Schädel. Danach setzt er sich in seinen amerikanischen Geländewagen und fährt zurück zum Check-Point der Zone. Wieder keine neuen MutantInnen gefunden heute.

Dieses Szenario ist die pixelgewordene Fiktion aus einem neuen US-amerikanischen Ego-Shooter namens S.T.A.L.K.E.R. - Shadow of Chernobyl, der den GAU von Tschernobyl im April 2006 eine furiose Neuauflage erleben lässt. Passend zum anstehenden zwanzigsten Jahrestag des Unglücks kann man die Folgen eines Reaktorunfalls - wenngleich übertrieben - virtuell miterleben. Doch wie steht es eigentlich in der Realität um die Reste des Kraftwerks und das kontaminierte Gebiet?

Der explodierte Block 4 - fast zwanzig Jahre nach der Havarie noch immer der Stoff, aus dem die Alpträume der vermeintlich langzeitverseuchten MitteleuropäerInnen gemacht sind? Die akute Gefahr, die das PC-Spiel suggeriert, geht vom realen Reaktor jedenfalls nicht mehr aus: In einem riesigen schützenden Betonsarkophag ist alles, was von dem radioaktiven Material übrig blieb, eingeschlossen. Die Umgebung Tschernobyls ist weiträumig noch für Jahrzehnte evakuiert und in die Sperrzone kommt nur, wer lebensmüde genug ist, sich einer Gammastrahlung von bis zu dreitausend Mikroröntgen pro Stunde auszusetzen. Das ist das hundertfünzigfache der durchschnittlichen Gammastrahlung von zwanzig Mikroröntgen, die in mitteleuropäischen Großstädten gemessen wird.

Allerdings entspricht die Wirklichkeit kaum dem Best-Case-Szenario von der ungefährlichen Betonruine, das die Ukraine gern verbreitet. Einem Greenpeace-Bericht aus dem Jahr 2004 zufolge ist die Betonummantelung, die offenbar hastig nur für eine Standzeit von dreißig Jahren errichtet worden war, baufällig. So sehr, dass Tiere und Regenwasser eindringen können und radioaktives Material nach außen transportieren. Im Bodenbereich des Sarkophages habe sich eine höchst giftige Mischung aus geschmolzenem Beton und Graphit, Kernbrennstoff und Wasser gebildet, die beständig tiefer in den Boden Richtung Grundwasser sickere. Überprüfbar sind die Mengen und das Ausmaß der Verschmutzung innerhalb des Reaktorblocks gleichwohl nicht - niemand hat für derartige Untersuchungen bisher genug Zeit im kontaminierten Gebiet verbracht, die Messinstrumente im Sarkophag sind ungenau.

Obwohl sich noch Kernbrennstoff im Reaktor befindet, ist ein Wiederaufleben der Kettenreaktion unwahrscheinlich. Das versichert der am 5. September veröffentlichte, mehrere hundert Seiten starke Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Dort werden auch die Spätfolgen des Unglücks thematisiert. Es gibt annähernd viertausend Opfer, die an den Folgen der Verstrahlung tödlich Erkrankten eingerechnet. Hinzu kommen nochmal viertausend Schilddrüsenerkrankungen, die aber zum großen Teil heilbar sind. Laut IAEA forderte der Reaktorunfall von Tschernobyl einen geringeren Tribut an Menschenleben als allgemein vermutet. Die unverzüglichen Umsiedlungen ganzer Städte haben Schlimmeres verhindert. Nicht mehr gerettet werden konnten die vielen Feuerwehrleute, die in der Nacht der Katastrophe in den Reaktor geschickt wurden und wegen der extremen Strahlung sofort ins Koma fielen und starben. Ähnlich, aber mit oftmals langjähriger Verzögerung, erging es den HelferInnen, die ohne Schutzkleidung, nur mit Mundschutz und Kittel ausgestattet, Trümmer entfernten. Sie starben qualvoll an der so genannten Strahlenkrankheit, die unter anderem Krebs und Veränderungen in der Erbsubstanz auslöst.

Was die Nahrungsmittelkette betrifft, so gibt es 19 Jahre nach dem Fallout, dem radioaktiven Regen, der über halb Europa niederging, noch immer Erschreckendes zu berichten. Das muss auch den sich in weiter Ferne wähnenden deutschen VerbraucherInnen Sorgen bereiten. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erklärte den Hirschtrüffelpilz, Lieblingsnahrung der bayerischen Wildschweine, zur Gefahr. Laut BfS beträgt die Belastung durch Radiocäsium, ein Zerfallsprodukt des Urans, in den Pilzen rund 25000 Becquerel pro Kilogramm. 600 Becquerel gelten als erlaubter Grenzwert für den Verkauf von Nahrungsmitteln.

Verglichen mit den Spätfolgen, unter denen die Region Tschernobyl leidet, ist die Belastung in Deutschland allerdings harmlos. Das führt anschaulich der tollkühne Nukleartourismus der Kiewerin Elena Filatova vor Augen, die aus Neugier das abgeriegelte Gebiet um den Unglücksreaktor mit ihrem Motorrad bereist. Was sie sieht ist manchmal skurril, häufig gruselig und bisweilen auch traurig. Filatova erzählt in ihrem Online-Tagebuch unter www.elenafilatova.com von einem riesigen Ground Zero. Von menschenleeren Straßen, blühender, aber grotesk mutierter Natur und von verfallenden Geisterstädten. Eine solche ist beispielsweise Pripyat, vier Kilometer nördlich von Tschernobyl gelegen. Kurz nach dem Unglück wurden alle 40000 BewohnerInnen evakuiert; jetzt liegt eine nervenzerreißende Stille über der Stadt, vor deren Häusern noch immer die Wäsche trocknet, die im April 1986 niemand mehr abhängen konnte. Alles in allem ein Szenario, das an eine im Dornröschenschlaf versunkene Parallelwelt, ein neuzeitliches Pompeji erinnert.

Da ist zum Beispiel ein Wald, der auf den ersten Blick wie eine ganz normale Ansammlung von Bäumen aussieht. Die Nähe des Waldes zum Zentrum der Verstrahlung ließ ihn im April 1986 in der Nacht in radioaktivem weißem Licht glühen, so dass sich Feuerwehrleute verwundert die Augen rieben. Manchmal glaubt Filatova, Reste dieses Glow-in-the-dark-Spektakels noch sehen zu können. Ihre gut besuchte Website verbreitet die Legenden, die sich heute, fast zwanzig Jahre nach der Nacht vom 25. auf den 26. April, um Tschernobyl ranken. Terra Incognita mitten in Europa, das regt die Phantasie so mancher KonspirologInnen an. Die virtuelle Ausschlachtung des Reaktorunglücks im PC-Spiel S.T.A.L.K.E.R. auf die einfache Formel »Dschungel plus Zombies gleich viele KäuferInnen« gebracht, hat begonnen.

Was bei Lichte besehen aber bleibt, findet sich im Bericht der IAEA. Und der sagt aus, dass die gesellschaftlichen Probleme des Großraums Tschernobyl weniger auf die Nachwirkungen von Block 4 denn auf die viel zu weiträumigen Massenumsiedlungen danach zurückzuführen seien. Sie provozierten Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Verkümmerung in großem Ausmaß. Mit diesem Befund ist Tschernobyl nun wirklich ganz in der Realität des Jahres 2005 angekommen.