Einheit in der Vielfalt?

Von Vanessa von Gliszczynski

Die indonesische Provinz Aceh will unabhängig werden. Seit dreißig Jahren kämpfen Aufständische für die Selbstständigkeit. Seitdem flammt der Konflikt zwischen RebellInnen und Regierung immer wieder auf. Im Mai diesen Jahres verhängte die indonesische Regierung nach einer Phase der Waffenruhe erneut den Ausnahmezustand. Sollte die Unabhängigkeitsbewegung die Autonomie Acehs durchsetzen, könnten in einer Kettenreaktion auch andere Provinzen vom der indonesischen Gemeinschaft abfallen. Denn auch in anderen Teilen Indonesiens kriselt es, vor allem seit sich Ost-Timor erfolgreich von der Inselrepublik lösen konnte. Bedeutet die Unabhängigkeit Acehs das Ende der Republik Indonesiens?

Im Frühjahr diesen Jahres ist in der indonesischen Provinz Aceh erneut der Krieg ausgebrochen. Am 18. Mai hat Indonesiens Präsidentin Megawati Sukarnoputri den Notstand über die Provinz verhängt. In Aceh gilt damit wieder Kriegsrecht und das indonesische Militär hat freie Hand. Als Gründe führte Sukarnoputri das Scheitern der Gespräche zwischen Regierung und der Unabhängigkeitsbewegung GAM (Gerakan Aceh Merdekah, Bewegung freies Aceh) sowie dem anhaltenden Terror durch die RebellInnen an. Zudem könne »die Situation eventuell die Integrität des Einheitsstaats der Republik Indonesien zerstören«.

Trotz mehrfacher Waffenstillstände und Vereinbarungen zwischen der indonesischen Regierung und den RebellInnen kommt die kleine Provinz im Norden Sumatras nicht zur Ruhe. Es ist schwer zu sagen, wie lange die Kämpfe andauern werden, denn es gelangen kaum Informationen über die Lage in Aceh nach Europa. Obwohl der Konflikt in Südostasien wegen seines islamistischen Hintergrunds von den USA unter dem Blickwinkel des Terrors betrachtet wird, spielen westliche Regierungen die Brisanz des Krieges oft herunter und vermeiden jede Form der Einmischung.

In Aceh ist der amerikanische Ölkonzern Exxon-Mobil ansässig, der im August 2002 vom International Labour Rights Fund in den USA verklagt wurde, weil er von den Morden und Folterungen durch sein Wachpersonal gewusst haben soll. Exxon argumentierte, dass die indonesische Staatsfirma Pertamina für den militärischen Schutz der Anlage zuständig sei, aber der amerikanische Konzern hat diesen Schutz mitfinanziert. Die US-Regierung antwortete auf den Vorfall mit dem Argument, die Klage schade nur den strategischen Interessen der USA bei der Bekämpfung des Terrors, dabei weiß sie genau, dass die Rebellen aus Aceh keine Verbindung zum Netzwerk der El Kaida unterhalten und dessen Interessen nicht teilen.

Deutschland wiederum lieferte Indonesien 39 ehemalige NVA-Schiffe, wobei sich Indonesien dazu verpflichtete, diese nur für die Bekämpfung von Piraterie und Schmuggel und zur Sicherung der Seewege zu benutzen. Diese Schiffe werden aber auch eingesetzt, um Soldaten nach Aceh zu transportieren und die GAM zu zerschlagen. Über diesen Vertragsbruch verlor Bundeskanzler Gerhard Schröder allerdings kein Wort, als er im Mai dieses Jahres in Indonesien zu Besuch war.

RebellInnen gegen Regierungstruppen

Beim Konflikt in Aceh stehen sich die Unabhängigkeitsbewegung freies Aceh und die indonesische Regierung gegenüber. Beide sind bereits seit Mitte der Siebzigerjahre in Kämpfe verwickelt. Die GAM wurde 1976 von Teungku Hasan de Tiro gegründet, welcher noch im Dezember desselben Jahres stellvertretend für alle AcehnesInnen die Unabhängigkeit der Region erklärte. Damit begannen die schweren Auseinandersetzungen zwischen den RebellInnen und der Regierung in Jakarta. Diese wollte die im Norden Sumatras gelegene Provinz nicht verlieren, da die Region reich an Ölquellen ist. Gleichzeitig hätte die Abspaltung Acehs von Indonesien aber auch im Widerspruch zur Staatsphilosophie Pancasila gestanden, in der die nationale Einheit als oberstes Ziel des Staates benannt ist. Nicht umsonst heißt das Motto der Republik »Einheit in der Vielfalt«. Die Republik Indonesien besteht aus über 13000 Inseln und es gibt mehrere hundert verschiedene Ethnien, deren Ansprüchen die Regierung gerecht werden muss. Die weite Ausdehnung des Inselstaates macht es der Regierung schwer, allen Inseln die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken und sie unter Kontrolle zu halten. Vor allem die Außeninseln fühlen sich immer wieder benachteiligt und in vielen Provinzen gibt es separatistische Bewegungen, neben Aceh unter anderem in Irian Jaya - dem westlichen Teil Neuguineas - und bis 2002 im mittlerweile unabhängigen Ost-Timor.

Die GAM hat einen islamistischen Hintergrund und möchte z.B. die Scharia einführen, unterscheidet sich aber in einigen Punkten von fundamentalistischen Gruppen wie der El Kaida. Diese wollen einen weltweiten Gottesstaat errichten und versuchen ihr Ziel durch die Durchführung des Dschihad - der Kampf gegen alle Ungläubigen - zu erreichen. Die RebellInnen in Aceh wollen zwar das islamische Recht einführen und einen Gottesstaat errichten, aber dieser soll auf das Gebiet der jetzigen Provinz beschränkt sein. Eine genaue Vorstellung von ihrem Staat haben die AcehnesInnen aber noch nicht und so ist es schwer zu sagen wie fundamentalistisch die RebellInnen wirklich sind. Da die AcehnesInnen zum größten Teil AnhängerInnen des Santri-Islams sind - einer besonders strengen Richtung des Islams -, vermuten ausländische Regierungen wie die USA in Aceh ein weiteres Zentrum des Terrors. Die Unabhängigkeitsbewegung ist allerdings tendenziell eher national als religiös oder fundamentalistisch orientiert.

Hintergründe

Die Geschichte des Aceh-Konflikts reicht zurück bis ans Ende des 19. Jahrhunderts. Seine Wurzeln liegen in der Kolonialisierung Indonesiens durch die Niederlande. Aceh war lange Zeit ein reiches und unabhängiges Sultanat, das vom Norden Sumatras aus Handel betrieb. Nach einem über zwanzig Jahre dauernden Krieg wurde Aceh 1910 in das niederländische Kolonialreich eingegliedert. Erst am Ende des Zweiten Weltkrieges erklärte Indonesien unter General Achmed Sukarno 1945 die Unabhängigkeit. Daraufhin gingen die Niederlande mit militärischen Mitteln gegen die junge Republik vor, um ihr altes Kolonialreich zurückzuerobern. Unter diesen Umständen kämpften AcehnesInnen und IndonesierInnen miteinander für ihre Freiheit, so dass das ehemalige Sultanat nach der endgültigen Unabhängigkeit Indonesiens eine Provinz der Republik wurde.

Der Widerstand gegen die indonesische Regierung entfachte erstmals 1953, als Präsident Sukarno beabsichtigte, Aceh in die Verwaltungseinheit Nord-Sumatra zu integrieren und die Provinz sich daraufhin zu einer unabhängigen islamischen Republik erklärte. Viele AcehnesInnen schlossen sich aus Protest gegen den Zentralismus in Jakarta und Sukarnos Sympathien für die indonesische Kommunistische Partei (PKI) islamischen Bewegungen wie der Darul-Islam an. Dabei ging es bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorrangig um die Abspaltung von Indonesien. Die Proteste richteten sich gegen die linke Orientierung des Präsidenten, gefordert wurde eine gerechtere Politik beim Umgang mit den Außeninseln. Als Sukarno Aceh 1957 einen Sonderstatus mit kulturellen und religiösen Autonomierechten anbot, endeten die separatistischen Aufstände zunächst und 1961 löste sich die islamische Republik Aceh wieder auf. Dann wurde es um die Region vorerst wieder ruhiger.

Dies änderte sich, als die Regierung Ende der Siebzigerjahre begann, in Aceh Öl und Erdgas zu fördern. Um die Stadt Lhokseumawe siedelten sich in Folge dieser Förderungen Petrochemie und andere Industrien an, die bis heute einen Großteil des indonesischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Von den Gewinnen aber sah die Bevölkerung Acehs so gut wie nichts. Während das Geld nach Jakarta oder an RegierungsfunktionärInnen ging, bekamen die AcehnesInnen die Zerstörung ihrer Umwelt zu spüren. Dazu kam, dass viele Bäuerinnen und Bauern ihre Felder verließen, um in der aussichtsreicheren Industrie zu arbeiten. Spätesten 2014 werden die Öl- und Gasressourcen aber aufgebraucht sein und niemand weiß, wie es dann um die Wirtschaft Acehs bestellt sein wird.

Wachsender Widerstand

All dies führte zu einem starken Zulauf bei der 1976 gegründeten Unabhängigkeitsbewegung GAM und fand ihren Höhepunkt in der von Teungku Hasan de Tiro vorgetragenen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Dezember 1976. Der Hass gegen die Regierung ist darin deutlich zu spüren: »…als der zweite Weltkrieg zu Ende war, hätte man das Ende der ›Dutch Indies‹ erwartet - ein Reich ist nicht zerschlagen, wenn noch eine territoriale Integrität besteht - unser Vaterland Aceh, Sumatra, ist uns nicht zurückgegeben worden. Stattdessen haben die Niederländer unser Vaterland den Javanesen übergeben… Der illegale Transfer der Souveränität über unser Vaterland durch die alten Kolonialherren, die Niederländer, an die neuen javanischen Kolonialherren, geschah im entsetzlichsten politischen Betrug dieses Jahrhunderts…«.

Die Folge der Unabhängigkeitserklärung waren harte militärische Operationen der Regierung. Nach drei Jahren wurde dieser Widerstand vorerst zerschlagen und de Tiro musste das Land verlassen; er koordiniert die Aufständischen seit 1979 von Stockholm aus.

Die GAM konnte aber nie ganz zerschlagen werden und so gibt es bis heute noch Unruhen in Aceh. Ständig kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und RebellInnen, in die immer wieder unschuldige ZivilistInnen verwickelt werden. Vor allem seit dem Rücktritt von Präsident Suharto wurde immer mehr über die Gewalt in Aceh bekannt, da seitdem die Presse mehr Freiheiten genießt. So wurde vor allem mehr über Menschenrechtsverletzungen auf Seiten des indonesischen Militärs berichtet. Auf der Jagd nach GAM-SympathisantInnen nahmen die Truppen keine Rücksicht auf ZivilistInnen, folterten, entführten oder ermordeten sie. Auch öffentliche Exekutionen oder das Auslegen von Leichenteilen vor Dörfern war keine Seltenheit. Als Aceh in den Neunzigerjahren zum militärischen Sondergebiet wurde, flohen zahlreiche BewohnerInnen angesichts des Terrors nach Malaysia. Diese schwere Art der Menschenrechtsverletzungen hat durchaus Parallelen im Umgang des Militärs mit Ost-Timor. Dieses durfte auf Druck der UNO letztes Jahr unabhängig werden, nachdem das Ausmaß der staatlichen Gewalt bekannt wurde.

Auch die GAM-AktivistInnen sind nicht ganz unschuldig an der Situation in Aceh, denn durch Entführungen, Lösegeldforderungen und Anschläge machten sie das Eingreifen der Regierung nötig. Doch haben die Anschläge der GAM keinen fundamentalistischen Charakter: Statt Selbstmordattentaten werden gezielt Raffinerien oder andere wichtige wirtschaftliche Einrichtungen sabotiert, um der Regierung und den Ölkonzernen finanziell zu schaden. Das Verhältnis von GAM-AktivistInnen zu SoldatInnen ist allerdings sehr unausgeglichen. Den etwa 40000 indonesischen SoldatInnen stehen 5000 GAM-RebellInnen gegenüber, die zum Teil noch nicht einmal bewaffnet sind.

Entäuschte Hoffnungen

Immer wieder wurden die Hoffnungen der Bevölkerung Acehs, die sich endlich Frieden wünscht, enttäuscht. Unter Präsident Abdurrahman Wahid kam es im Juni 2000 zu einem sechsmonatigen Waffenstillstand, der sogar verlängert wurde. Schon bald aber begannen beide Seiten, sich erneut zu bekriegen.

Mit dem Amtsantritt von Präsidentin Megawati Sukarnoputri vor zwei Jahren kam die Hoffnung nach friedlichen Verhandlungen auf. Tatsächlich gestand Sukarnoputri in einem ihrer ersten Gesetze Aceh den Zustand der Sonderautonomie zu und machte Zugeständnisse im Bereich der lokalen Verwaltung. Aceh kommt seitdem auch eine stärkere Beteiligung an den Gewinnen aus der Ölindustrie zu. Das zeigt zwar guten Willen, aber wie in anderen separatistischen Regionen Indonesiens funktioniert die Umsetzung der Beschlüsse nicht wie sie soll. Die AcehnesInnen trauen der Regierung nicht, da parallel zu den Gesetzen mehr Truppen in der Provinz stationiert wurden.

Am 10. Mai 2002 vereinbarte die indonesische Regierung mit der GAM einen unbefristeten Waffenstillstand. Ziel war die Wiederherstellung des Friedens, so dass 2004 die Wahl einer acehnesischen Regierung möglich seien sollte. Den Aufständischen wurde unter anderem die Anwendung des islamischen Rechtes erlaubt und auch andere Zugeständnisse führten Aceh immer näher in Richtung Selbstständigkeit heran. Beide Parteien versprachen die Einstellung der Kampfhandlungen, die Regierung wollte die Truppen abziehen und die indonesische Polizei (Polri) sollte ihren gewohnten Dienst wieder aufnehmen. Der Polri wurde verboten, offensiv gegen AcehnesInnen vorzugehen, sie sollte vielmehr Recht und Ordnung aufrecht halten. Voller Optimismus wurde beim Vertragsabschluss gemutmaßt, dass bei einem friedlichen Verlauf der folgenden drei Monate der endgültige Frieden absehbar wäre. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt die erneute Eskalation des Konflikts. Welche der beiden Parteien den Waffenstillstand gebrochen hat, ist undurchsichtig, wahrscheinlich haben beide Gruppen ihren Teil dazu beigetragen.

Momentan ist kein Ende beim Kampf um Aceh abzusehen, unter anderem auch weil viele westliche Regierungen zögern, sich in den Aceh-Konflikt einzumischen. Viele der über 13000 Inseln wollen unabhängig werden und eine erfolgreiche Abspaltung Acehs könnte weitere Inseln zu Unabhängigkeitserklärungen ermutigen; genauso wie die Unabhängigkeit Ost-Timor den AcehnesInnen neuen Mut gegeben hat. Die Folge könnte der Zerfall der Republik sein. Indonesien wird aber als Garant für die Stabilität im südostasiatischen Raum betrachtet und durch den Zusammenbruch der Republik könnten weitere Unruheherde in der Region entstehen.

Die Frage ist auch, wie ein unabhängiger Staat Aceh überhaupt aussehen soll. Die GAM hat noch keine genauen Vorstellungen über ein mögliches Regierungs- und Verwaltungssystem, obwohl sie sich in vielen Dörfern bereits die Kontrolle über Rechtssprechung und Steuereintreibung anmaßt. In diesen Orten funktioniert aber weder die Wirtschaft noch das Bildungssystem, so dass es bei einer baldigen Unabhängigkeit Acehs nur zu weiteren Komplikationen kommen würde. Ein Ende des Aceh-Konflikt ist deshalb noch nicht in Sicht und man mag nur hoffen, dass die indonesische Regierung sich auch ein zweites Motto seiner Staatsphilosophie Pancasila zu Herzen nimmt: »Gerechtigkeit und Humanität; Gewalt und Unterdrückung wird nicht toleriert«.