»Nicht die Verhältnisse, die ich anstrebe«

Sind die Hochschulen im Ausland besser, weil die StudentInnen dort schneller fertig sind? Nein, findet Norbert Finzsch: Unter der kurzen Ausbildung leide auch der wissenschaftliche Standard. Von Volker Elste, Patrick Hagen

Norbert Finzsch ist Professor für Angloamerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Köln. Er verbrachte einige Semester als Gastdozent in Frankreich und den USA. Für die philtrat sprachen Volker Elste und Patrick Hagen mit ihm über Studiengebühren, den Streik und die Bildungssysteme in anderen Ländern.

Herr Finzsch, Sie haben die landesweite Resolution des Aktionsbündnis gegen Studiengebühren unterschrieben. Warum?

Ich habe diese Resolution schon vor längerer Zeit unterschrieben, nicht erst anlässlich dieser Streikaktion. Ich bin ein Anhänger des Rechts auf Studium, des Rechts auf Bildung. Ich habe die Vorschläge sowohl der Landesregierung als auch der Bundesregierung zur Einführung eines kostenpflichtigen Studiums immer abgelehnt. Das war der Grund für mich, diese Resolution zu unterschreiben.

Ich denke, dass es für eine demokratische Gesellschaft wichtig ist, dass ihre Mitglieder ungehinderten Zugang zu Bildung haben. Die Einführung von Studiengebühren würde in dieses Grundrecht auf Bildung in einer Weise eingreifen, dass ich Angst habe, dass es zu Verhältnissen zurückgeht, wie wir sie in den Fünfzigerjahren hatten.

In der Debatte um Studiengebühren sind ja als erstes immer Gebühren für so genannte LangzeitstudentInnen im Gespräch. Mit der Begründung diese würden den Universitäten Kapazitäten wegnehmen.

Das ist ein Scheinargument. So genannte Langzeitstudierende sind Studierende, die in der Regel einen erheblichen Teil ihres Studiums damit verbringen, Geld für dieses Studium zu verdienen. Sie sitzen dann auch nicht in einem Seminar. Man kann also nicht davon reden, dass sie Kapazitäten verbrauchen. Wenn Sie zwanzig Stunden arbeiten müssen, können Sie nicht gleichzeitig an der Universität sein. Empirische Studien aus Hamburg und Göttingen belegen, dass Langzeitstudierende ihr Studium strecken müssen, weil sie in der Zeit Geld verdienen. Es sind Leute, die an Stelle von acht Seminaren vier belegen und das nächste Semester die nächsten vier. Das führt aber nicht zu einer Belastung der Universitäten.

Es ist schlimm genug, dass ein Teil der Studierenden nebenbei arbeiten muss. Ich fände es vernünftiger, darüber nachzudenken, wie man dieses Problem in den Griff kriegt. Anstatt sie abzustrafen, indem man ihnen zusätzlich noch Studiengebühren auferlegt.

Warum hebt man dann immer auf die LangzeitstudentInnen ab? Ist das der Öffentlichkeit leichter vermittelbar?

Ein Argument, das immer wieder genannt wird, ist der europäische Vergleich. Im europäischen Vergleich sind deutsche Studienabsolventen und -absolventinnen älter als beispielsweise in England und Frankreich. Ich habe gerade ein Semester in Frankreich als Gastprofessor zugebracht, kenne also die Situation dort aus eigener Anschauung. Ich kann sagen: Das sind nicht die Verhältnisse, die ich an einer deutschen Universität anstrebe. Studierende, die zwar in der Regel nur acht Semester studieren, die aber methodisch von ihrem Studium recht wenig mitbekommen. Wo die Studienleistungen fast ausschließlich darin bestehen, auswendig zu lernen und dieses auswendig gelernte Wissen dann in einer Klausur abprüfen zu lassen. Ich habe in Frankreich eine Vorlesung vor 300 Leuten gehalten. Da hätte ich aus dem Telefonbuch vorlesen können, das hätten die mitgeschrieben. Das ist nicht meine Vorstellung von Wissenschaft.

Ich habe dort auch Leute unterrichtet, die im Promotionsstudiengang waren, und ihr Wissen - vor allem das methodisch-theoretische - war deutlich geringer als bei deutschen Studierenden mit Magisterabschluss. Man kann zwar argumentieren, dass alles auch in acht Semestern durchgezogen werden kann und die Leute rausgeprüft werden sollten, die das nicht bringen. Aber man kriegt am Ende eine Generation von Studienabsolventen und -absolventinnen, die relativ unkritisch und relativ unwissend ist. Und ich weiß nicht, ob das im Sinne der Universität sein kann.

Ich glaube, dass tatsächlich einige Leute in den Vorstandsetagen denken, es sei für die Verwertungsbedingungen interessanter, Leute im Alter von 23 Jahren oder 24 Jahren in den Betrieb zu bekommen, als mit 27 oder 28. Solche Überlegungen muss ich mir als Hochschullehrer jedoch nicht zu eigen machen.

Sie haben gerade die europäische Vergleichbarkeit angesprochen. Auch das US-amerikanische System wird ja gerne als Vorbild genommen. Dabei wird argumentiert, dass man Teile des Systems oder auch das ganze System nach Deutschland übertragen könnte.

Ich kenne die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, weil ich selbst dort als Doktorand gearbeitet und als Gastprofessor unterrichtet habe. Die Vereinigten Staaten haben insgesamt etwa viertausend Universitäten und Colleges. Von diesen viertausend sind etwa die Hälfte private Institutionen, der Rest ist staatlich oder halbstaatlich. Die Qualität variiert enorm, viel stärker als es in Deutschland der Fall ist. Es gibt dort Spitzenuniversitäten wie Harvard, Yale, Berkeley, Stanford, Texas, an denen absolute Spitzenforscher und Spitzenforscherinnen arbeiten. In Berkeley waren gleichzeitig acht Nobelpreisträger beschäftigt. Aber gleich um die Ecke ist ein Community College, das lediglich einen Kurs in Geschichte, einen Kurs in Soziologie und einen Kurs in Französisch anbietet. Auch werden die internationalen Standards von den Colleges nicht erreicht. Man kann also nicht von dem amerikanischen System reden, sondern muss sich sehr genau ansehen, mit welchen Universitäten man es zu tun hat. Wenn man mal von der Gruppe der vielleicht fünfzig Spitzenuniversitäten absieht, ist das Niveau zumindest in meinem Fach nicht sehr hoch. Die Kölner Universität kann es im Fach Geschichte jederzeit mit einer mittelgroßen staatlichen oder privaten Universität in den Vereinigten Staaten aufnehmen. Ich denke, das gilt auch für andere Fächer.

Soviel zur Vergleichbarkeit. Man muss zum amerikanischen System aber auch sagen, dass die Leute erhebliche Studiengebühren zahlen müssen. Diese variieren von 5000 bis 30000 Dollar pro Jahr. Ein Teil der Leute muss sich hierfür stark verschulden. Andererseits benutzen viele Universitäten dieses Geld nicht nur zum Bau von Sportstadien oder zur eigenen Ausstattung, sondern geben dieses Geld zurück an Gruppen, die von sich aus ein Studium nicht bezahlen könnten: Angehörige von Minderheiten, African Americans, Zuwanderer und Zuwanderinnen, sozial Schwache. Viele Universitäten haben sogar ein Quotierungssystem, um einen bestimmten Prozentsatz von Angehörigen verschiedener Gruppen zu unterstützen. Auch der Staat greift teilweise massiv mit Finanzmitteln ein. Wenn die Quote nicht erreicht wird, werden der Universität staatliche Mittel vorenthalten. All das muss man wissen, wenn man vom amerikanischen System redet.

Ich bin im Prinzip dem amerikanischen System nicht abhold, wie ich es jetzt beschrieben habe. Es passt in den Vereinigten Staaten. Ich habe aber Bedenken dabei, das System eins zu eins auf Deutschland zu übertragen.

Zum amerikanischen System gehört auch, dass die Privatwirtschaft und die Universitäten in einem Maße zusammenarbeiten, wie das hier schlecht vorstellbar ist. Um ein Beispiel zu nennen: Die University of California in Berkeley, an der ich für meine Promotion gearbeitet habe, hat das Biologie-Departement praktisch an eine große Gentechnologiefirma vermietet. Diese Firma übt für einen Zeitraum von zehn Jahren die Kontrolle über alle Forschungsergebnisse aus und hat Zugriff auf alle Patente, die dort entwickelt werden. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an diesem Departement für Biologie sind nur noch formal Angestellte der Universität.

Man muss sich überlegen, ob man das will. Ich möchte das nicht. Ich möchte beispielsweise nicht, dass irgendwann der Mercedes-Konzern das Historische Seminar aufkauft und sagt, ihr schreibt jetzt eine Firmengeschichte und seid formal abhängig Beschäftigte von DaimlerChrysler. Das ist nicht meine Vorstellung von einer demokratischen Gesellschaft und einer demokratischen Öffentlichkeit.

Um es zusammenzufassen: Ich bin sehr skeptisch, was die Übernahme amerikanischer Methoden und amerikanischer Prinzipien auf das deutsche Bildungssystem angeht.

In den Vereinigten Staaten wurde vor kurzem in einer Studie festgestellt, dass immer weniger Familien den College-Besuch ihrer Kinder finanzieren können, dass bis zu dreißig Prozent des Einkommens für das College aufgebracht werden. Ist dies nicht auch eine Folge dieses Systems?

Es ist mit Sicherheit eine Folge des Systems. Wenn amerikanische Eltern Kinder bekommen, ist es üblich, dass sie bereits bei der Geburt ihrer Kinder anfangen, für den College-Besuch zu sparen. Oder dass die Großeltern ein Sparbuch anlegen. Wenn Familien drei Kinder haben, wollen diese alle auf eine gute Universität gehen - womöglich auch noch gleichzeitig und nicht zeitversetzt. Es fallen dann Studiengebühren von zirka 30000 bis 40000 Dollar im Jahr an. Wer soll das finanzieren? Da sehe ich ganz große Probleme.

Hinzu kommt das Schulsystem in den Vereinigten Staaten. Die Highschool ist nicht vergleichbar mit einer deutschen Gesamtschule oder dem Gymnasium. Teilweise bekommen die Leute in der Highschool wesentlich weniger mit als an einem deutschen Gymnasium oder einer Gesamtschule, so dass das erste oder auch das zweite Jahr an der Universität dazu dient, die Defizite abzubauen, die aus der Schulbildung herrühren. Erst danach kann ein wissenschaftliches Studium aufgenommen werden.

Ich muss allerdings auch sagen, dass amerikanische Familien und auch der Staat immer wieder Möglichkeiten gefunden haben, Leute zu fördern. Nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise oder nach dem Korea-Krieg haben viele Soldatinnen und Soldaten ein Studium finanziert bekommen. Um umsonst oder billig zu studieren, ist dies übrigens immer noch ein gangbarer Weg. Es ist in den Vereinigten Staaten absolut üblich, sich beispielsweise für vier Jahre bei den Marines zu verpflichten, um anschließend ein Studium absolvieren zu können. Ich glaube, dass das in Deutschland auch noch eine große Rolle spielen wird: Wer freiwillig zur Bundeswehr geht - wir sind ja offensichtlich auf dem Weg zu einer halbprofessionellen Armee - kann sich das Studium durch die Verpflichtung verdienen.

Auch das Stipendiensystem in den USA wird ja immer als vorbildlich dargestellt. Wie ist Ihre Meinung hierzu?

Es ist kein schlechtes System. Allerdings vor dem Hintergrund, dass das ganze Studium gebührenpflichtig ist. Man hat sich mit der Gebührenpflicht ein Problem geschaffen und versucht es dadurch zu lösen, dass relativ großzügig Stipendien vergeben werden. Im Peterson´s Guide to Colleges and Universities ist nachzulesen, wie hoch die Förderquote ist. Bei einigen Universitäten ist sie höher als sechzig Prozent. Mehr als sechzig Prozent der Studentinnen und Studenten bekommen also finanzielle Zuschüsse von der Universität. Diese können in der Höhe variieren. Oft reicht das vom Wegfall der Studiengebühren bis hin zum tatsächlichen Zuschuss zum Lebensunterhalt.

In der Regel ist es sogar der Fall, Promovenden und Promovendinnen nicht nur die Studiengebühren komplett zu erlassen, sondern zusätzlich 400 oder 500 Dollar im Monat als Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten zu geben. Der Promotionsstudiengang wird also sehr viel besser gefördert als in Deutschland. Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass sehr viel weniger Leute promovieren und dass mit der Promotion in der Regel auch eine Beschäftigung an der Universität verbunden ist. Sehr viel schlechter sieht es aus, wenn beispielsweise ein weißer männlicher Student mit mittelmäßigen Noten während seines Studiums kein großes Engagement zeigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Student finanziell gefördert wird, ist relativ gering.

Braucht Deutschland die Herausbildung von Spitzenuniversitäten, die ja auch mit einer Klassifizierung von UniversitätsabgängerInnen verbunden ist?

Wir brauchen eine ordentliche Ausstattung aller Universitäten mit Büchern, Räumen, Computern. Wir benötigen Mittel für TutorInnen, den Ausbau der Lehre, Stellen für den Mittelbau und ein anständiges Förderprogramm der Studierenden. Wir brauchen ein besseres Schulsystem, das die Studierenden auf die Universität mit ihren notwendigen Freiräumen vorbereitet. Wenn das erreicht ist, kann man meinethalben auch über Spitzenuniversitäten nachdenken. Auf das vorherrschende Mangelsystem eine Zuckerhaube von Spitzenuniversitäten aufzusetzen, ist politisch falsch und funktioniert in meinen Augen ohnehin nicht.

Zum Thema Streik. Wie gehen Sie in ihren Veranstaltungen mit der Situation um, dass gerade gestreikt wird?

Am Montag, als ich drei Veranstaltungen hatte, war ja noch kein Streik. Ich werde am Donnerstag zu meiner Vorlesung gehen und hoffe, dass dort Menschen stehen, die diese Vorlesung bestreiken, so dass sie nicht stattfindet und man stattdessen zu einem Austausch über den Streik und über die Probleme unseres Hochschulsystems kommt.

Ich habe zum Beispiel gerade erfahren, dass in Hamburg, wo ich zuvor gelehrt habe, aufgrund des neuen Landeshochschulgesetzes die Autonomie der Hochschulen abgeschafft werden soll: Die Dekane und Dekaninnen sollen vom Universitätspräsidenten beziehungsweise der Universitätspräsidentin ernannt werden. Die Organe der akademischen Selbstverwaltung, in denen ja auch Studentinnen und Studenten vertreten sind, sollen faktisch abgeschafft werden. Das ist eine ganz gefährliche Tendenz.

An der Universität Köln haben wir auf der letzten Sitzung der Engeren Fakultät der Philosophischen Fakultät [dem höchsten beschlussfassenden Gremium der Fakultät, die Red.] beschlossen, dass nur noch die Engere Fakultät alle wichtigen Entscheidungen trifft und dass die Erweiterte Engere Fakultät nur noch Diskussionsrecht, jedoch kein Mitspracherecht mehr hat.

Hier sind wir auf einem Weg, die Autonomie der Universitäten abzuschaffen und diese stärker unter die Kuratel des Staates zu stellen. Dies muss man im Kontext mit der Sozialentwicklung an der Universität sehen. Ich glaube, dass das zwei Seiten der selben Medaille sind. Ich hoffe, dass ich in meinen Lehrveranstaltungen mit den Studentinnen und Studenten darüber diskutieren kann. Möglicherweise kommt aber auch niemand.

Wie beurteilen Sie die Haltung der ProfessorInnen und der VertreterInnen des akademischen Mittelbaus zum Streik? Beide Gruppen sind ja in den letzten Jahren ebenfalls von massiven Veränderungen betroffen gewesen.

Ich glaube, dass im Mittelbau sehr viel Sympathien für den Streik vorhanden sind. Das entnehme ich den Gesprächen, die ich geführt habe. Aber ich habe natürlich nicht mit allen Leuten gesprochen. Der Mittelbau ist in gewisser Weise aber auch sensibilisiert für die Entwicklung, weil er die Reform des Dienstrechts als Damoklesschwert schon seit längerer Zeit über sich schweben hat. Es existiert daher eine gewisse Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für die politischen Veränderungen im Hochschulbereich.

Bei den Kollegen und Kolleginnen ist es unterschiedlich. Eine ganze Reihe von Leuten sagt mir, dass sie für den Streik sind. Ich weiß nicht, ob sie gesehen haben, dass sich auch die Rektorenkonferenz gegen Studiengebühren ausgesprochen hat. Ich hoffe, dass von dort ein Impuls ausgeht. Dass die Kollegen und Kolleginnen, die bis jetzt nur insgeheim Sympathien für den Streik haben, sich vielleicht veranlasst sehen, zu dem Thema Stellung zu nehmen - und nicht nur in Zweiergesprächen.