Wir singen, um uns zu beschweren

Mit Beschwerde-Chören machen SängerInnen auf der ganzen Welt ihrem Groll Luft. Sie beschweren sich über ihre Jobs, Liebeskummer und manchmal auch über sich selbst. Von Gregor Leyser

Eine Menschenmenge, die lautstark ihren Unmut zum Ausdruck bringt, nennt man auf finnisch Valituskuoro, wörtlich übersetzt Beschwerde-Chor. An einem ungemütlichen Wintertag im Jahr 2005 kam dem deutschstämmigen Oliver Kochta-Kalleinen und seiner finnischen Frau Tellervo Kalleinen die Idee, den Begriff wörtlich zu nehmen. Sie riefen einen Chor ins Leben, dessen Mitglieder ihre Unzufriedenheit über die kleinen und großen Probleme des Lebens melodisch ausdrücken.

Das Künstlerpaar lebt zwar in Helsinki, den ersten Beschwerde-Chor gründete es aber in Birmingham, das aufgrund einer Vielzahl architektonischer Sünden als außergewöhnlich unattraktive Stadt gilt. Hier sollte es keine Probleme bereiten, einen Beschwerde-Chor zu formieren, dachten sie sich. Und tatsächlich empfingen sie nach einem öffentlichen Aufruf innerhalb kürzester Zeit mehr als 2000 Beschwerden, von denen sie eine Auswahl mit 18 SängerInnen, sogar mit einer Sprechgesangseinlage, vertonten. Die Beschwerden betrafen nicht nur die Stadt Birmingham. Die Menschen klagten über alles Mögliche, das Geschehen in der Welt, andere Personen und auch sich selbst: »Ich will mein Geld zurück. Mein Job ist eine Sackgasse. Und warum kommt der Bus um 6.30 Uhr so selten? Keiner mag mich.«

Zurück in Finnland machte sich das musikalische Ehepaar daran, einen Schwesterchor in Helsinki zu gründen. Zusammen stellten die Chöre Aufnahmen über die Online-Videoplattform YouTube bereit. Die Resonanz war überwältigend. Nach der Einrichtung der Internetseite complaintschoir.org verselbständigte sich das Projekt. Mittlerweile existieren Chöre in Sankt Petersburg, Jerusalem, Hamburg und Juneau in Alaska. Auch in Budapest haben bereits die ersten Proben stattgefunden und in Singapur befindet sich gerade ein Chor in Gründung.

Im Onlinemagazin orato.com schreibt Kochta-Kalleinen, man könne nicht feststellen, dass es in bestimmten Städten mehr Beschwerden gäbe als anderswo. Allerdings gebe es unterschiedliche Herangehensweisen der verschiedenen Chöre. Während die Deutschen sich relativ hart und etwas aggressiv beschwerten, verpackten die FinnInnen ihren Unmut eher humoristisch. Der Sankt Petersburger Chor bevorzuge vor allem existenzielle Themen wie die unerfüllte Liebe, in Birmingham dagegen sei man eher mit sich selbst unzufrieden. In Argentinien wird es in Kürze sogar zwei Chöre geben. Dort gibt man sich nicht nur mit Lamentieren zufrieden, sodass dort bald ein Lösungs-Chor entstehen soll. Auf dem afrikanischen Kontinent existiert bislang kein Beschwerde-Chor. Den Grund sieht Kochta-Kalleinen in der Kultur vieler afrikanischer Länder. Es sei dort generell nicht üblich, sich zu beschweren. Anders dagegen in Indien, wo der nächste Chor initiiert werden soll. Dort gebe es eine große Beschwerdekultur.

Für Kochta-Kalleinen hat das Projekt nicht nur eine politische und künstlerische, sondern auch eine therapeutische Dimension. Menschen, die sich häufig beschwerten, würden von ihrem Umfeld als störend empfunden. In der Gruppe sei man dagegen ermutigt, genau dies zu tun. Der Gesang verstärke den positiven Effekt auf die eigene Psyche, der entsteht, wenn man seinem Ärger Luft macht.