Hirschfänger: von wegen idyllisch

Von Lukas Buchheim

Wer kennt sie nicht, die bayerische Zirbelholzidylle mit den unberührten Wäldern und den grasenden Kühen auf Almwiesen, welche sich im Winter zu Skiwiesen wandeln. In den Dörfern des Voralpenlandes ist die Welt noch in Ordnung: Jeder Mensch hat seinen Platz in der intakten Dorfgemeinschaft, Arbeitslosigkeit und Kriminalität existieren nicht. Nicht umsonst träumen viele stressgeplagte und asphaltsatte StädterInnen von einem Häuschen auf dem Lande, wo man sich von der zunehmenden Geschwindigkeit in unserer globalisierten Welt wenigstens zeitweise erholen kann.

Die beiden Münchner Autoren Matthias Edlinger und Jörg Steinleitner werfen in ihrem Roman Hirschfänger einen Blick hinter die vermeintlich glänzende Fassade des intakten Landlebens. In einzelnen Episoden porträtieren sie die BewohnerInnen eines Alpendorfes, dessen Bergwald von einem Wilderer heimgesucht wird. Die Wilderei allerdings ist nur eine harmlose Verfehlung angesichts dessen, was der Leser, nicht aber der fiktive Tourist, mit fortschreitender Lektüre erfährt. Denn im Dorf gilt der Grundsatz: Ihre Probleme regelt die Gemeinschaft selbst; eine Einmischung von außen, und sei es durch die örtliche Polizei, ist unerwünscht. So sind im Ort von Alkohol- und Drogensucht über Vetternwirtschaft und Rechtsextremismus bis zu Vergewaltigung und Mord alle nur denkbaren menschlichen Abgründe verbreitet. Die Idylle entpuppt sich beim näheren Hinsehen als übel riechende Jauchegrube.

Allerdings erfordert die Schilderung all dieses gesellschaftlichen Unrats eine Vielzahl an handelnden Personen: Rund zwanzig DorfbewohnerInnen werden im Rahmen der 270 Seiten vorgestellt. Darüber hinaus haben auch noch ein »Gesundbeter« namens Rossknecht und eine weitere überirdische Macht bei den dörflichen Machenschaften ihre Finger im Spiel. Hieraus resultiert eine Unübersichtlichkeit, die die LeserInnen des öfteren zwingt, zurückzublättern, um sich der Identität einer Person zu vergewissern. Das innerdörfliche Beziehungsgeflechts zu vereinfachen, hätte dem Roman sicherlich nicht geschadet, zumal dann auch eine Konzentration auf einzelne Personen möglich gewesen wäre und Übersinnliches nicht als alleiniger Erklärungsansatz dienen müsste.

Sieht man über diese Schwäche hinweg, so ist Hirschfänger eine einfach zu lesende, unterhaltsame Lektüre, die es vermag, einen verregneten Nachmittag mit Spannung zu füllen oder während Lernzeiten als Ausgleichslektüre zu fungieren - sofern kein Zeitdruck herrscht. Denn ist man einmal in den bayerischen Sumpf eingetaucht, will man sein ganzes Ausmaß erfahren.

Matthias Edlinger, Jörg Steinleitner: Hirschfänger, Lagrev-Verlag, München 2004, 11 Euro.