Harry Potters fiktive Romanzen

Statt gemeinsam um Dumbledore zu trauern, zerfleischen sich die Fans der Buchreihe. Grund: Das Liebesleben der Figuren wird längst nicht allen Erwartungen gerecht. Von Nicola Milani

Wenn Buchläden in ihren Schaufenstern einen Countdown runterzählen, wenn Kinder um Mitternacht nicht ins Bett, sondern ins Zauberkostüm schlüpfen und wenn Erwachsene in hysterische Tränen ausbrechen, weil sie nicht das allererste Exemplar bekommen haben, dann ist es wieder soweit: der neue Harry Potter ist da. So geschehen am 1. Oktober 2005, dem offiziellen Erscheinungsdatum von Harry Potter und der Halbblutprinz. Bereits am 16. Juli bei der Veröffentlichung der englischen Originalausgabe hatten sich LeserInnenschlangen um die Buchhandlungen geringelt. Millionen treuer Fans katapultierten den sechsten Band um Joanne Kathleen Rowlings »Zauberlehrling« schon nach Bekanntgabe des Erscheinungsdatums mit ihren Vorbestellungen auf Platz eins der Bestsellerlisten.

Genau diese treuen Fans fechten nun Grabenkämpfe um Sinn und Unsinn der neuesten Entwicklungen in Rowlings Geschichte aus. Dabei wird weniger über den Zweck des Todes von Zauberschuldirektor Dumbledore, um logische Schwächen in der Handlung oder den zunehmend düsterer werdenden Ton der Geschichte gestritten. Stattdessen bekriegt man sich im Internet, dem idealen Medium für Fanclubs respektive communities, in den so genannten »shipping wars«.

Shippers fahren weder zur See noch verladen sie irgendwelche Frachten. »Shipper«, abgeleitet von »relationship«, ist neuhochdeutsch für die AnhängerInnen bestimmter romantischer Bindungen zwischen fiktionalen Figuren: Buffy und Angel, Spock und Uhura, Frodo und Sam etwa. Dem wahren Fan scheint nichts unmöglich. Auch die magische Welt von Rowling hat Unmengen entsprechender »Fanfictions« - Kurzgeschichten von PotterjüngerInnen, die mit den originalen Figuren arbeiten - inspiriert. Und deren AutorInnen wollen partout nicht von ihren Lieblingspaarungen lassen. Mehr noch, die zukünftigen literarischen Offenbarungen wollen nun päpstlicher als der Papst sein und wissen besser als die Schöpferin der Serie, wie diese nun gefälligst weiter zu laufen habe.

Besonders übel nimmt der Schulhofklatsch, pardon, die crème de la crème der LeserInnenschaft, dass der nunmehr pubertierende Harry sich nicht für seine beste Freundin Hermine, sondern für die kleine Schwester seines Freundes Ron als vorübergehende Liebschaft entscheidet. Mrs. Rowlings virtueller Briefkasten wird von Hassmails überflutet, die ihr jedwede Kompetenz als Verfasserin ihrer Bücher absprechen. Man fragt sich, ob sie sich abends im Kreis ihrer Familie am Kamin die absurdesten Vorwürfe als Realsatire zu Gemüte führt.

Die Rangliste führt dabei sicher die verirrte Seele an, die auf göttliche Intervention zugunsten eines Happy Ends für Harry und Hermine vertraut. Voraussichtlich hat sich die auf göttliches Eingreifen Hoffende auch schon der dazugehörigen Petition angeschlossen. Dort werden Rufe nach einem Boykott des letzten Bandes laut. LeserInnen, die außerhalb von Fancommunities noch ein Leben haben, wird das herzlich wenig beeindrucken, und die zwei Millionen Exemplare der deutschen Erstauflage werden deswegen auch nicht in den Regalen verstauben. Es soll ja schließlich noch genug Menschen geben, die die Geschichten mögen wie sie sind. Was wäre beispielsweise, wenn sich Harry im Nachhinein als schwul herausstellen würde? Man darf auf den nächsten Band gespannt sein.