Selbstverwaltung ade

25 Jahre nach ihrer Gründung ist die polnische Gewerkschaft Solidarnosc im Neoliberalismus angekommen. Von Jakub Rzekanowski

Vor 25 Jahren, im Sommer 1980, entstand die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc im Zuge einer großen Streikwelle polnischer ArbeiterInnen. Damals vertrat Solidarnosc vor allem die Idee der ArbeiterInnenselbstverwaltung. Über dieses Thema sprach Jakub Rzekanowski für die polnische Tageszeitung Trybuna mit Zbigniew Kowalewski. Kowalewski war 1980/81 Mitglied der regionalen Leitung von Solidarnosc in Lodz und Delegierter auf dem ersten Kongress der Gewerkschaft.

Die Vision von Arbeiterräten, die die Fabriken leiten, erscheint heute komplett als Utopie. Doch 1980 handelte es sich um etwas sehr Reales. Wie ist diese Idee unter den Arbeitern aufgekommen?

Es gab damals eine massive soziale Mobilisierung, eine zunehmende Aktivität der Arbeitenden, die sehr weit reichte, sehr kämpferisch und sehr radikal war. In solchen Situationen tauchte im Laufe der Geschichte mehrfach der Wille auf, Arbeiterräte zu schaffen, die die Macht in den Fabriken ergreifen; die Bestrebungen der Werktätigen reiften bis zur Absicht, die Führung des Staates zu ändern. So gesehen war die Situation keineswegs außergewöhnlich, sie bestätigte diese Regel. Aber es gab einen anderen wichtigen Aspekt: Wir waren uns im Klaren, dass die Erinnerung an die Arbeiterräte von 1956 immer noch lebendig war.

Ich möchte betonen, dass unsere Vorstellung von Arbeiterselbstverwaltung nicht primitiv oder simpel war. Sie verband die demokratische Verwaltung der Betriebe mit dem Wettbewerb. Der Arbeiterrat sollte die Entwicklungslinien eines Betriebs leiten und bestimmen und die strategischen Entscheidungen treffen. Die tägliche, operationelle Leitung lag in den Händen des vom Rat nach einem Wettbewerb unter Spezialisten gewählten Direktors.

Wie reagierte die Regierung auf die Bewegung?

Die Forderung nach Selbstverwaltung war im Herbst 1981 der am stärksten umkämpfte Punkt. Aber die Führung von Solidarnosc unterstützte unsere Forderungen nicht. Sie wurden ihr von den Arbeitern aufgezwungen. Der erste Kongress von Solidarnosc verabschiedete hinsichtlich der Selbstverwaltung die härtesten Resolutionen, Lech Walesa zum Trotz. Das hatten die Betriebe erreicht, die Basis, dort wo die zentrale Führung der Gewerkschaft nichts zu sagen hatte.

Nach 1989 ist es zu einem völlig anderen System gekommen, als das, wofür die Arbeitenden 1980 gekämpft haben. Wie gelang es der Solidarnosc-Führung, die Arbeitenden mit dem Kapitalismus zu narren?

Es gab mehrere Gründe. Einer davon war die schwere Wirtschaftskrise, die für die Menschen langfristig bedrückend war. Das führte zu einer Delegitimierung der verstaatlichten Ökonomie in den Augen der Gesellschaft, die in der Vergangenheit als sehr legitim galt. Es gab für die Leute auch keinen Anreiz mehr, die Betriebe zu führen. Etwas, das verfällt, kann nicht in diese Richtung mobilisieren.

Dazu kommt noch der sehr starke Einfluss der Rechten in Solidarnosc, ein Effekt der Arbeit im Untergrund, des Einflusses der Kirche. Die in Verbindung mit der Kirche funktionierende Solidarnosc wurde von ausländischer Hilfe abhängig. Am Anfang kam die Hilfe vor allem von Gewerkschaften und linken Organisationen. Dann wurde sie von Filialen westlicher Staaten geleistet, die auf diese Weise Solidarnosc sehr von sich abhängig machten.

Vergessen wir nicht, dass wir es 1989 mit einer schwachen sozialen Mobilisierung zu tun hatten. Die Aktivität der Arbeitenden war schwach. Natürlich gab es Streiks, aber mit einer großen Welle von Kämpfen hatte das nichts tun. Es gab sehr verzweifelte Mobilisierungen infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, die sehr unmittelbare Interessen und Forderungen betrafen.

Können die Ideen der Arbeiterselbstverwaltung eine Alternative zum Neoliberalismus sein? Wir haben in den letzten Jahren Übernahmen von Fabriken durch die Beschäftigten erlebt.

Tatsächlich hat es einige Fälle in Polen gegeben. In anderen Regionen der Welt waren sie zahlreicher, zum Beispiel in Argentinien. Die polnischen Erfahrungen waren jedoch sehr begrenzt. Es handelte sich um sehr verzweifelte Defensivkämpfe, es ging um die Rettung der Jobs, der Fabriken. Die Idee der Selbstverwaltung kann sich nur entwickeln und eine Stütze finden in Situationen sehr intensiver sozialer Kämpfe, die nicht isoliert und nicht defensiv sind.

Es ist sehr schwierig für isolierte Betriebe, die sich in den Händen der Beschäftigten befinden, im Rahmen der liberalen Ökonomie zu überleben. Das sind keine optimalen Bedingungen für diese Art von Erfahrungen. Aber die Ideen der Arbeiterselbstverwaltung werden wieder auferstehen und zu einer Alternative werden, die unter den Beschäftigten in Situationen des breiteren Kampfs starke Unterstützung genießt.

Das Interview erschien in SoZ - Sozialistische Zeitung vom September 2005, www.soz-plus.de.