Sodom und Gomorrha bei Biedermanns

Ende Januar läuft die 1000. Folge der Lindenstraße. Was an diesem Tag in der ältesten und bekanntesten Seifenoper Deutschlands passiert, steht noch in den Sternen. Von Raphaela Häuser

Glaubt man Gung Pham Kien, der in der Lindenstraße gerne chinesische Weisheiten zum Besten gibt, so prägte »Konfuze« das Sprichwort »Dabei sein ist alles«. Und so halten es auch seit fast tausend Folgen und zwanzig Jahren wöchentlich über vier Millionen FernsehzuschauerInnen, dank derer die Lindenstraße nicht nur die älteste, sondern auch die erfolgreichste Seifenoper im deutschen Fernsehen ist. Die Serie sei »ein permanenter Spiegel der bundesrepublikanischen Realität, wie es keinen zweiten mehr geben wird«, urteilte die Jury des Adolf-Grimme-Preises, der 2001 an die Dauerserie ging.

Für einen Teil der Lindenstraßen-ZuschauerInnen scheint die Sendung zumindest so real zu sein, dass man sich nicht nur um die freigewordenen Wohnungen in der Lindenstraße bewirbt, sondern auch Helga Beimers Reisebüro in der Kastanienstraße mit Initiativbewerbungen überschüttet. So real, dass Schauspielerin Irene Fischer, die als Anna Ziegler in der Lindenstraße Übermutter Beimer den Mann ausspannte, mitunter auf der Straße von eifrigen Lindenstraßen-AnhängerInnen angepöbelt und bespuckt worden sein soll.

Den Inhalt der 1000. Folge, die am 30. Januar ausgestrahlt wird und ausnahmsweise statt der üblichen halben Stunde 45 Minuten dauern wird, hüten die MacherInnen wie ein Staatsgeheimnis. Anlass für zahlreiche Fan-Foren, über die Geschehnisse in der Jubiläumsfolge zu spekulieren. Demnach könnte die halbe Lindenstraße durch den Amokläufer Olaf Kling ausgerottet werden, der seit Wochen mit der Beschaffung von Waffen zu Gange ist und sich im Kalender den 30. Januar rot markierte. »Sodom und Gomera«, würde Else Kling ausrufen, wüsste sie von den heimlichen Aktivitäten ihres Sohns.

Als am 8. Dezember 1985 Hausmeister Egon Kling die erste Folge mit den Worten: »So, hier sind ihre Schlüssel« eröffnete, war eigentlich alles noch ganz normal in der Lindenstraße: Neben der neugierigen Rentnerin Else Kling im Erdgeschoss, die unter anderem Namen wohl jedes Mietshaus kennt, gab es die obligatorische WG, einen wohlhabenden Arzt und die prototypische Spießerfamilie Beimer, deren umstrittene Trennung im Jahr 1990 die Nation in zwei Lager spaltete. Ihre NachbarInnen waren der Vietnamese Gung, die griechische Familie Sarikakis, die alte Jungfer Berta Nolte, die in einer Mietwohnung mit Mama lebte und der prügelnde Ehemann Sigi Kronmayr. Im Laufe der Zeit wurde das Gesellschaftsbild komplettiert durch den Nazi-Opa Franz Wittich, einen Taxifahrer, Kleinkriminelle, alleinerziehende Mütter und schwule und lesbische Paare.

Mittlerweile sind allerdings fast alle BewohnerInnen der Lindenstraße irgendwie miteinander verwandt: Zu häufig heiratet man und zu häufig heiratet man innerhalb des Hauses. So änderten sich mit den Zeiten auch die Familienmodelle in der Lindenstraße und momentan macht die Patchwork-Familie das Rennen. Ob dies allerdings tatsächlich der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt oder einfach eine Folge dessen ist, dass beim ein oder anderen Nachwuchs fast jeder Hund im Dorf sein Schwänzchen reingehalten haben könnte, bleibt unklar. Aber wo sonst könnten schließlich zehn Mietparteien so friedlich in acht Wohnungen leben, fehlt der Außenkulisse des Hauses Lindenstraße Nr. 3 doch ein Stockwerk.

Keine Serie pflegt ihre Charaktere so, wie es die Lindenstraße tut. Jede Figur hat ihre Funktion im Ensemble und entwickelt sich doch weiter. Als Erfolgsrezept gilt gemeinhin, dass alle NormalbürgerInnen sich mit den Charakteren der Lindenstraße identifizieren könnten. Aber mal ehrlich: Wer möchte sich schon in diesem inzestuösen Haufen von MörderInnen und VerbrecherInnen wieder erkennen? In der Lindenstraße droht ein erhöhtes Risiko, auf unnatürliche Weise ums Leben zu kommen, lebt man doch auf gefährlichem Pflaster. In zwanzig Jahren mordeten die BewohnerInnen der Lindenstraße zweimal aus Eifersucht, einmal den eigenen Vater und einmal die Geliebte der Ehefrau. Hinzu kommen der legendäre Totschlag am Ex-Pfarrer Matthias Steinbrück, der einer Bratpfanne zum Opfer fiel, und zwei weitere Mordopfer, die immerhin nicht durch »LindensträßlerInnen« dahingerafft wurden, denn auch Mafia und Kinderschänder sind in der beschaulichen Lindenstraße unterwegs - Sex and Crime im Vorabendprogramm. Neben vier Selbstmorden und sechs Todesopfern durch Autounfälle stirbt man - je nachdem was im »echten« Leben aktuell ist - an Aids, Darmkrebs, Tollwut, Leukämie, Staublunge oder unerkannten Virusinfektionen, man erfriert, verbrennt oder stürzt auf der Treppe zu Tode. Nur SARS, Ebola, Pest und Cholera sind noch nicht eingefallen. Insgesamt ist die Lindenstraße ein statistisches Wunder: Auf elf Geburten kommen fünf Fehlgeburten und vier Abtreibungen, das ganz normale Leben also. Wäre die Serie anders, könnte man schließlich auch die eigenen NachbarInnen observieren.

Für gewöhnlich zeigt man sonntags ab 18.40 Uhr den Alltag in der Lindenstraße vom Donnerstag der vergangenen Woche, Ausnahmen bilden die Feiertags-Folgen. Insgesamt ist man sehr bemüht, aktuelle Entwicklungen abzubilden, und bemüht wirkt es dann auch manchmal: Die sozialdemokratisch angehauchten Kurzreferate, die den Aktualitätsbezug herstellen sollen, sind allerdings gerade aufgrund ihrer Unbeholfenheit der Renner bei den Fans. Man unterscheidet zwei gängige Kategorien: Die Tagesschau vom vergangenen Donnerstag, die in einer beliebigen Mietwohnung im Fernsehen läuft, oder das gestelzte Gespräch im Treppenhaus. In die Königsklasse geht es nur an Wahlsonntagen, wenn via Fernseher die aktuellen Hochrechnungen aus dem ARD-Wahlstudio eingespielt werden.

Für die 1000. Folge bleibt bisher nur eine Gewissheit: Das »Kurzreferat« wird sich auf Hartz IV oder die Flutkatastrophe beziehen, wenn bis dahin nichts Weltbewegendes mehr passiert. Und Olaf Kling wird vermutlich nicht Amok laufen - wer würde schon im Vorfeld so mit dem Zaunpfahl winken? Der Rest bleibt Spekulation. Aber »Konfuze« sagt: »Geheimnisse der Nacht sollen nicht gelüftet werden.«