In schlechter Verfassung

Der Entwurf einer europäischen Verfassung weist erhebliche Mängel auf, vor allem im Bereich der Grund- und Sozialrechte. Von Gerhard Klas

»Dieses Europa, das muss man immer wieder deutlich machen, bedeutet weit mehr als ein Binnenmarkt«, beschwor Bundeskanzler Gerhard Schröder im Dezember 2002 die Öffentlichkeit. Damals wuchs die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union. Kaum ein Regierungsgipfel fand ohne Massenproteste gegen das »Europa der Konzerne« oder für »ein anderes Europa« statt. Das neue Europa, betonte Schröder, sei »das ganz einzigartige europäische Sozial- und Gesellschaftsmodell, das auf umfassender Teilhabe und eben den Prinzipien der Aufklärung beruht.« Damals arbeitete der Europäische Konvent bereits seit einem Jahr am Entwurf für eine EU-Verfassung. Im Sommer 2003 wurde er der Öffentlichkeit präsentiert, am 17. und 18. Juni dieses Jahres auf dem Abschlussgipfel der irischen EU-Ratspräsidentschaft angenommen.

Der Verfassungsentwurf stellt keine Wende dar, wie es viele sozialdemokratische und grüne PolitikerInnen behaupten. Er ist vielmehr den so genannten Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages verpflichtet, also einer Begrenzung der Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung in den Mitgliedsländern. Wörtlich aufgeführt wird sogar das Verbot, öffentliche Einrichtungen gegenüber der Privatwirtschaft besonders zu fördern.

Der Entwurf zielt auf die Begünstigung der Privatwirtschaft, deren Investitionssicherheit und Standortvorteil. Unternehmenssteuern und soziale Sicherungssysteme sind für InvestorInnen reiner Ballast, deshalb legt der Text sich in diesen Bereichen nicht fest, sondern forciert den sozial- und steuerpolitischen Wettbewerb der Mitgliedsstaaten untereinander. Denn die Unternehmen investieren vor allem dort, wo Arbeitskosten und Steuern am niedrigsten sind. Die Kosten für dieses Umverteilungsprogramm zahlen ArbeiterInnen, Angestellte, Erwerbslose, RentnerInnen und alle sozial Bedürftigen. Hingegen steigen die Gewinnmargen vor allem der großen Konzerne in der Europäischen Union, die zwischen verschiedenen Standorten wählen können. Ein so verfasstes, einseitig auf Unternehmensinteressen ausgerichtetes Europa sucht auch in den internationalen Beziehungen nicht den Ausgleich, sondern den eigenen Vorteil. »In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen«, so der entsprechende Passus.

Satte Profite winken besonders den Rüstungskonzernen. Denn der Verfassungsentwurf zwingt die Mitgliedsstaaten, einen Beitrag zur militärischen Aufrüstung der EU zu leisten. »Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors.«

Die schon heute existierenden, staatsübergreifenden Kampfverbände in einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollen also weiter ausgebaut werden - und nicht nur zur Verteidigung. Ihr Mandat ist extrem weit gefasst und beinhaltet nicht nur »Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen«. Die Truppen sollen auch zur Bekämpfung des Terrorismus eingesetzt werden, selbst auf dem Hoheitsgebiet von Drittstaaten. Während im deutschen Grundgesetz der Bundestag über Militäreinsätze entscheiden soll, haben in Zukunft jedoch weder die nationalen noch das Europäische Parlament bei EU-Militäreinsätzen das letzte Wort. Dies gilt für alle Belange der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, über die im Wesentlichen der Europäische Rat der Regierungschefs bestimmt. Und auch in vielen anderen grundlegenden Bereichen der Politik sind die zumindest formalen Rechte eines Parlaments, die in den repräsentativen Demokratien der Nationalstaaten Europas gelten, weitgehend aufgegeben: bei der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik.

Der Verfassungsentwurf als Grundlage eines gemeinsamen Europa entspricht nicht einmal der klassischen Gewaltenteilung eines Charles de Montesquieu aus dem 18. Jahrhundert. Die Europäische Kommission fungiert als Legislative und teilt sich die Exekutivkompetenzen mit dem Europäischen Rat. Das Europäische Parlament als einziges direkt gewähltes EU-Gremium hat kein Recht auf eigene Gesetzesinitiativen. Schon heute haben in Deutschland sechzig bis achtzig Prozent aller Gesetze und Verordnungen direkt oder indirekt ihren Ursprung in Beschlüssen, Leit- und Richtlinien, die auf EU-Ebene entschieden wurden. Aber nicht vom Parlament, sondern von der Kommission und dem Europäischen Rat, die kaum einer demokratischen Kontrolle unterliegen.

Auch die Grundrechtecharta, die im Verfassungsentwurf festgehalten ist, fällt hinter Erreichtes zurück, etwa die allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948. Die Charta kennt weder ein Recht auf Arbeit noch ein Recht auf Einkommen. Weil die Organe der EU an sie gebunden sind und es ein individuelles Klagerecht geben soll, sind die sozialen Grundrechte sehr schwammig formuliert und durch den Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften relativiert. So ist dort nur noch die Rede vom »Recht auf Zugang« zu sozialen Leistungen.

Es ist ein grundlegender Unterschied, ob man einen zwischenstaatlichen Vertrag abschließt, oder eine Verfassung erarbeitet, die einer verbindlichen Selbstverständniserklärung des künftigen Europa entspricht. In der Geschichte der europäischen Nationalstaaten gilt dabei spätestens seit der Französischen Revolution die Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung als Maßstab, die möglichst große Teile der Bevölkerung mit einbezieht. Anders die Konventsmethode für den EU-Verfassungsentwurf: Wegen des Auswahlverfahrens kamen die 105 Vollmitglieder des Konvents fast ausschließlich aus den beiden großen politischen Lagern - den Konservativen und den SozialdemokratInnen. Andere bedeutende politische Gruppen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen führten ein randständiges Dasein.

Eine europäische Verfassung, die sich auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung in Europa stützen soll, setzt zunächst eine europäische Öffentlichkeit voraus. Doch wenn es um Europa geht, spielen in der öffentlichen Debatte die meisten PolitikerInnen die nationale Karte: Wer bezahlt, wer kassiert? Welchen Einfluss haben wir in der institutionellen Machtverteilung? Das sind die Fragen, die bisher die veröffentlichte Meinung dominiert haben. Die politischen Inhalte der EU-Verfassung spielten, wenn sie überhaupt zur Sprache kamen, eine Nebenrolle.

Gerhard Klas arbeitet im Rheinischen JournalistInnenbüro.