»Ich gucke mir Züge an«

Station Agent ist ein Film über ›Randgruppen‹ der weder kitschig noch pathetisch noch diskriminierend ist. Er beschreibt das Leben dreier AußenseiterInnen in der amerikanischen Provinz. Von Andreas Bodden

Was macht man, wenn man nur 1,30 Meter groß ist und von niemandem ernst genommen wird? Wenn die Kinder auf der Straße hinter einem herlaufen und fragen, wo denn Schneewittchen und die anderen sechs Zwerge sind? Man zieht sich in eine eigene Welt zurück und baut einen Panzer von Unnahbarkeit um sich auf, der niemanden nahe heran kommen lässt. Genau das hat in dem Film Station Agent Finbar McBride (Peter Dinklage) gemacht. Er ist ein so genannter Liliputaner und lebt in der tristen Industriestadt Hoboken im US-Bundesstaat New Jersey.

Die Welt, in die er sich zurückgezogen hat, ist die der Eisenbahn. Er arbeitet in dem Spielzeugeisenbahnladen »The Golden Spike«. In seiner Freizeit beobachtet er von seiner Wohnung aus die vorbeifahrenden Züge und schaut sich abends die Amateurfilme der train chasers an, die mit einer Kamera fahrenden Zügen hinterherbrausen. So führt er ein einsames, aber erfülltes Leben. Dies ändert sich, als sein Chef eines Tages im Laden tot umfällt. Der Laden wird geschlossen und Finbar tritt das Erbe an, das ihm sein Chef hinterlassen hat: Ein verlassenes Eisenbahndepot in der kleinen Stadt Newfoundland. Ohne zu zögern zieht Finbar dorthin, um sich noch mehr seiner Leidenschaft für Eisenbahnen widmen zu können. Er beobachtet Züge und macht selber Aufnahmen mit der Kamera.

Doch in Newfoundland hat Finbar plötzlich einen aufdringlichen Nachbarn. Es ist Joe, ein New Yorker kubanischer Herkunft. Er ist Finbar - im Gegensatz zu vielen anderen - freundlich gesonnen und sucht seine Freundschaft. Finbar aber ist seit Jahren daran gewöhnt, Menschen abzuwehren. So ist er zwar freundlich, aber wortkarg und distanziert. Joe lässt sich allerdings nicht abwimmeln. Er nimmt sogar an Finbars Leidenschaft für Eisenbahnen teil. Eine dritte Person kommt ins Spiel: die Malerin Olivia. Auch sie hat schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht und schottet sich ab. Sie lernt Finbar kennen, als sie ihn fast mit ihrem Auto überfährt.

Es ergibt sich eine interessante Dreiecksgeschichte zwischen Finbar, Joe und Olivia. Sie ziehen sich an, stoßen sich wieder ab und finden sich wieder. Es fällt Finbar schwer, seinen Panzer plötzlich durchlässiger zu machen, denn dadurch wird er verletzlicher. Das Gleiche gilt in noch höherem Maße für Olivia. Doch Joe gibt ihnen mit seinem unwiderstehlichen Charme keine Chance. Er holt sie zurück ins Leben.

Der Film ist nicht spektakulär. Er zeigt eine Reihe von AußenseiterInnen, die sich aufgrund ihrer Körpergröße, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder einfach wegen ihrer schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen in ein Schneckenhaus zurückgezogen haben. Der Film wird aber an keiner Stelle gefühlsduselig oder gar kitschig. Auch werden die Figuren nicht so gezeichnet, dass man den Eindruck hätte, sie ertrinken im Selbstmitleid. Man hat vielmehr den Eindruck, dass die Kamera die Verletzlichkeit und die Zurückgezogenheit der dargestellten Personen respektiert. Sie bleibt auf Distanz und begleitet die Figuren des Dramas behutsam auf ihrem Weg zurück ins Leben.

Auch die SchauspielerInnen nähern sich den von ihnen dargestellten Personen mit Respekt und Einfühlungsvermögen. Sie übertreiben nie, es ist eher eine Neigung zum Understatement zu spüren. Joe ist aufdringlich, aber nie penetrant, sondern immer freundlich, menschlich, herzlich. Finbar ist distanziert, aber er wirkt nicht verschroben, sondern eher lakonisch und gelassen. Sein Stoizismus nötigt Respekt ab, er ist keine Witzfigur. Das Gleiche gilt für Olivia, die den schwierigsten, weil unausgeglichensten Charakter darstellen muss. Aber auch der läuft nie aus dem Gleis, er kippt weder ins Lächerliche noch ins Pathetische.

So entwickelt sich ein angenehmer Humor. Das kann man an folgendem Dialog sehen: Joe: »Was machst Du hier?« Finbar: »Ich guck mir Züge an.« Joe: »Wann kam eigentlich der letzte Zug vorbei?« Finbar: »Vor einer Stunde, 25 Minuten.« Joe: »Dein Ernst? Ist ja echt spannend. Ich bleibe eine Weile. Was dagegen?« Finbar: »Nein«.

Aber Joe nimmt wirklich Anteil, er macht sich nicht über Finbar lustig. Das ist das Entscheidende. So ist ein außerordentlich sehenswerter Film abseits von Hollywood entstanden, der so genannte Randgruppen in den Blick nehmen kann, ohne kitschig, pathetisch oder diskriminierend zu werden.

Station Agent. USA 2003. Buch, Regie: Tom McCarthy. SchauspielerInnen: Peter Dinklage, Patricia Clarkson, Bobby Cannavale u.a. Bereits angelaufen.