»Nie wieder einen Nazi als Kanzler«

Bildergeschichten IX: Wie eine Journalistin einen alten Nazi ohrfeigte und dafür noch am selben Tag ins Gefängnis kam. Von Raphaela Häuser

Am 7. November 1968 tritt beim CDU-Parteitag in Berlin eine Frau von hinten an den Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger heran und schlägt ihm mit voller Wucht ins Gesicht. »Nazi, Nazi«, ruft sie so laut sie kann. Diese Frau ist die 29-jährige Journalistin Beate Klarsfeld, die zusammen mit ihrem französischen Ehemann Serge Klarsfeld seit 1964 namhafte Nazis aufspürte und versuchte, sie vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen.

Dies war nicht die erste Auseinandersetzung zwischen Klarsfeld und Kiesinger: Bereits im Frühjahr 1968 hatte Beate Klarsfeld im Bundestag eine Rede Kiesingers durch Zwischenrufe gestört. Zuerst habe sie gefürchtet, nicht den Mut aufzubringen, die Rede des Kanzlers zu unterbrechen. »Nazi Kiesinger, abtreten«, rief sie schließlich so laut sie konnte. »Nachdem ich die Worte einmal ausgesprochen hatte, war es leicht, sie zu wiederholen.«

Kurt-Georg Kiesinger war seit Anfang 1933 NSDAP-Mitglied, seit 1940 Verbindungsmann des Reichsaußenministeriums zu Goebbels Propagandaministerium. Seine NS-Vergangenheit war in Deutschland kein Geheimnis, nur wurde sie nicht offen thematisiert. Bis heute fehlen in den meisten Lebensläufen zu Kiesingers Person die Jahre 1933 bis 1945. Wenn man die Nazis aus dem öffentlichen Leben entfernen wolle, müsse man mit dem einflussreichsten Mann im Staat anfangen, hatte Beate Klarsfeld sich gedacht. »Wenn Kiesinger zurücktritt, werden wir nie wieder einen Nazi als Kanzler haben«, so die Journalistin. Kiesinger trat nicht zurück. Er erstattete Anzeige gegen Klarsfeld.

Noch am selben Tag wird sie per Eilgerichtsverfahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Aufgrund internationaler Proteste wird das Urteil später auf vier Monate Bewährungsstrafe reduziert. »Mit einem Schlag berühmt«, titelt die Presse. Nur über die Vergangenheit des Bundeskanzlers wird weniger berichtet als über »Ohrfeigen-Beate« selber, die öffentlichkeitswirksam durch den Dreck gezogen wird. »Das ist eine unbefriedigte junge Frau«, heißt es aus dem Umfeld Kiesingers.

Serge Klarsfeld gibt eine öffentliche Erklärung ab: »Ich habe nichts unternommen, meine Frau davon abzubringen, den ehemaligen aktiven Nationalsozialisten Kiesinger herauszufordern. Ich bin dem Richter Drygalla dankbar, der mit seinem auf ein Jahr Gefängnis lautenden Urteil deutlich gemacht hat, dass es sich um das Problem einer Gesellschaft und eines Staates handelt, die solche Leute wie Kiesinger decken und jene verfolgen, die gegen führende Nationalsozialisten aktiv Widerstand leisten.«

Heinrich Böll schickt rote Rosen an Klarsfeld und wird von Günther Grass angegriffen: Es bestehe weder Anlass, Klarsfeld Blumen zu schicken noch Kiesinger eine Sonnenbrille zu leihen. Böll kontert: »Ich war diese Blumen Beate Klarsfeld schuldig. Später habe ich Frau Klarsfeld noch einmal Blumen geschickt. Und ich werde - pardon! - ihr ein drittes Mal Blumen schicken, wenn ich Anlass dazu sehe.«

Aber auch Kiesinger bekommt Blumen: Am 22. November 1968 schreibt Josefine Marx aus Bonn einen Leserbrief an die Kölnische Rundschau: »Ich habe dem von mir hochgeschätzten Bundeskanzler im Namen der anständigen deutschen Frauen für diese Untat Abbitte geleistet und ihm Blumen geschickt. Die gewordene Französin soll doch uns deutschen Frauen das Urteil über unseren Bundeskanzler überlassen.«