Wunderkarnickel im Heimatfilm

Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern benutzt das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft 1954 lediglich als Kulisse für einen kitschigen, neumodischen Heimatfilm. Auch die Figuren bleiben blass. Von Volker Elste

Als hätte man es schon immer geahnt. Nicht etwa höhere Mächte waren verantwortlich für den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 durch die deutsche Nationalmannschaft, nicht der »Fußballgott« Toni Turek oder das »Fritz-Walter-Wetter« am Tag des Endspiels, sondern zwei ordinäre Karnickel.

Die zwei Karnickel landen in Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern auf dem Tisch der Familie Landowski aus Essen. Von Vater Landowski für den Geburtstag seiner Frau deliziös zubereitet, hat das Mahl nur einen Makel: Die innige Beziehung von Matthias Landowski, dem elfjährigen Sohn der Familie, zu den beiden Tieren.

Matthias wiederum ist für »Boss« Helmut Rahn, den Star von Rot-Weiß Essen, eine Art Maskottchen. Ihm darf er immer die Tasche und möglichst zwei Flaschen gekühltes Bier für die Zeit nach dem Spiel tragen. Nur mit Matthias an seiner Seite, davon ist Rahn überzeugt, kann er entscheidende Spiele gewinnen. Und für Rahn steht in Kürze das wichtigste Spiel seiner Karriere an: Das Finale der Weltmeisterschaft gegen Ungarn im Berner Wankdorfstadion.

Wegen der toten Karnickel passiert, was passieren muss. Vater Landowski fährt als Ausgleich für das Verspeisen der beiden Tiere mit seinem Sohn von Essen nach Bern. Am Finaltag erreichen sie Mitte der zweiten Halbzeit beim Stand von 2:2 das Stadion. Matthias gelangt durch die Katakomben an den Spielfeldrand und wird dort vom »Boss« entdeckt. Wenige Minuten später folgt das »Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Tor! Tor! Tor!« des Radioreporters Herbert Zimmermann und kurz darauf sein »Aus! Aus! Aus! Deutschland ist Weltmeister«.

Das so genannte Wunder von Bern, der Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft über die favorisierten Ungarn, dient Wortmann lediglich als Klammer. Denn eigentlich erzählt er die Geschichte der Familie Landowski nach 1945. Dabei bündelt er alle existierenden Klischees über die Nachkriegszeit in den fünf Familienmitgliedern. Der Vater kehrt 1954 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Essen zurück. Er findet sich in der ungewohnten Umgebung nicht zurecht. Als Ernährer der Familie will er die Kneipe verkaufen, die seine Frau nach dem Krieg aufgebaut hat, und wieder unter Tage arbeiten. Er kann jedoch nicht mehr in die Zeche zurück, da ihn das Geräusch der Presslufthämmer an die Erlebnisse an der Front erinnert.

Die Familie ist ihm fremd, seine Frau und die drei Kinder wiederum verstehen ihn nicht. Seiner Tochter, die wie die Mutter seltsam namenlos wirkt, verbietet Landowski das Tanzen mit Soldaten; sie darf in seinen Augen keine »Soldatenbraut« werden. Bruno Landowski, Matthias' kommunistisch angehauchter älterer Bruder, flüchtet vor seinem Vater nach Ost-Berlin. Das Berner Finale verfolgt er im FDJ-Hemd vor dem Radio.

Letztendlich aber wandelt sich Vater Landowski, ausgelöst durch ein Gespräch mit einem Essener Pfarrer, doch noch zum Familienmenschen. Er fährt als Entschuldigung für das Karnickelessen mit Matthias nach Bern und sorgt so dafür, dass Deutschland 1954 Weltmeister wird. Am Ende des Films beginnt er zu weinen, als er Brunos Abschiedsbrief erhält.

Das Wunder von Bern wirkt bei der Schilderung all dieser Ereignisse künstlich und im Endeffekt kitschig. In der Verpackung eines Fußballspiels hat Wortmann einen neumodischen Heimatfilm gedreht. Es verwundert daher auch nicht, dass der durch den Gewinn der Weltmeisterschaft ausgelöste Nationalismus im Film zwar thematisiert, aber an keiner Stelle kritisiert wird. Dabei wäre beispielsweise das Singen der ersten Nationalhymnenstrophe durch siegestrunkene deutsche ZuschauerInnen hervorragend einzubauen gewesen.

Das Wunder von Bern, BRD 2003, Regie: Sönke Wortmann, Darsteller: Louis Klamroth, Peter Lohmeyer, Lucas Gregorowicz, Katharina Wackernagel u.a., Kamera: Tom Fährmann.