Verfasstes Europa

Die Europäische Union gibt sich eine Verfassung. Nach anderthalb Jahren Streit muss am 20. Juni ein Entwurf vorliegen. Von Torben Strausdat

Für den Europäischen Konvent hat der Countdown begonnen. Am 20. Juni 2003 soll er dem Europäischen Rat in Saloniki den Entwurf für eine EU-Verfassung vorlegen. Der Zeitplan sieht vor, dass dieser Entwurf im Herbst in einer Regierungskonferenz erörtert und bis Ende des Jahres durch alle EU-Gremien und Einzelstaaten gebilligt sein soll. Spätestens zum Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten im Mai 2004 soll die Verfassung in Kraft sein.

Das Ziel des 105 Köpfe zählenden Konvents, der aus VertreterInnen der nationalen Parlamente und Regierungen, des EU-Parlaments und der Europäischen Kommission besteht, ist es, eine Verfassung zu entwerfen, die die bisherigen Verträge ablöst und eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen EU und den Einzelstaaten regeln soll. Als positive Neuerung ist dabei vor allem die Aufnahme der Europäischen Grundrechtecharta zu sehen, die vor drei Jahren zwar verfasst und verabschiedet wurde, bisher aber keine Rechtskraft erlangt hat. Das Europäische Parlament erhält in weiteren Bereichen das Mitentscheidungsrecht.

Doch der Entwurf, den das Präsidium des Konvents unter Leitung von Valéry Giscard d'Estaing in der letzten Maiwoche dem Plenum präsentierte, führte zu teilweise heftigen Protesten. Strittig sind vor allem die Größe der Kommission, der Ratsvorsitz und das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheits-, sowie der Steuerpolitik.

Der momentan gültige EU-Vertrag in der Fassung von Nizza sieht vor, dass jedes Mitglied eineN KommisarIn für die EU-Kommission vorschlägt. Im Moment stellen die fünf größten Staaten sogar zwei KommisarInnen. Nach dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten - die sind Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern - würde die Kommission auf 25 Mitglieder anwachsen. Eine solche Größe wird nicht nur von den größeren Mitgliedstaaten als unpraktikabel bewertet, sodass sie vorgeschlagen haben, die Kommission auf 15 Mitglieder zu beschränken. Der Verfassungsentwurf hat diesen Vorschlag übernommen.

Kleinere Staaten haben aber die Befürchtung, dass sie dann nicht mehr in der Kommission vertreten sein werden und ihr Einfluss damit schwindet. Diese Diskussion ist geprägt von Machtgerangel und Misstrauen. Denn EU-Vertrag und Verfassungsentwurf garantieren die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder, die nur dem Interesse der Union und den Verträgen verantwortlich sind. Die Kommission hat innerhalb der EU eine wichtige Position, weil sie in weiten Bereichen das alleinige Vorschlagsrecht für Richtlinien und andere Beschlüsse der EU-Gremien besitzt, die Einhaltung der Verträge überwacht und einen Großteil der Brüsseler Bürokratie als Exekutivorgan leitet.

Ähnlich steht es um die Ratspräsidentschaft. Bisher rotiert dieses Amt alle sechs Monate unter den Mitgliedstaaten. Auf Initiative Deutschlands und Frankreichs wurde nun im Verfassungsentwurf eine auf zweieinhalb Jahre gewählte Ratspräsidentschaft festgeschrieben. Auch hier kommt die Kritik vor allem von den kleineren Staaten der EU, die befürchten, damit in Zukunft in zwei wichtigen europäischen Gremien an Bedeutung zu verlieren. Das neue Europa werde damit zu einem Europa der Großen. Doch auch die Kommission sieht durch ein solches Präsidentenamt, das eher die Interessen der Einzelstaaten vertritt, ihren Einfluss als supranationale Institution gefährdet.

In vielen Bereichen sieht der Entwurf eine Änderung des Entscheidungsmodus von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen vor. Das wurde von Deutschland und Frankreich auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU gefordert. Doch was die beiden zentraleuropäischen Staaten als Konsequenz aus der Unstimmigkeit im Irak-Krieg verstehen, lehnen unter anderem Spanien und Großbritannien aus dem gleichen Grund ab. Sie betrachten das Mehrheitsprinzip in diesem Bereich als einen zu weit gehenden Eingriff in die Souveränität der Nationalstaaten. Der jetzige Entwurf des Konventpräsidiums trägt dieser Sorge Rechnung und beschneidet im Gegensatz zu vorherigen Entwürfen auch den Einfluss der Kommission, bei der einE EU-AußenministerIn angesiedelt werden soll. Im Gegensatz zu früheren Entwürfen sieht dieser nur noch Mehrheitsbeschlüsse in Fragen vor, in denen der/die AußenministerIn auf ausdrücklichen Wunsch des Rates, durch den die nationalen Regierungen vertreten werden, Vorschläge macht. Vorschläge der Kommission bedürfen demnach im Rat weiterhin der einstimmigen Zustimmung.

Außenminister Joschka Fischer, der für die deutsche Bundesregierung im Konvent sitzt, lobte die Möglichkeit, dass einige Mitgliedstaaten auch in der Frage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik verstärkt zusammenarbeiten könnten. Dazu sehe der Entwurf aber die Beteiligung von mindestens einem Drittel aller Mitgliedstaaten vor. Das stelle eine zu hohe Hürde dar, so Fischer. Ein Beispiel für einen Vorstoß dieser Art sind die Ergebnisse des so genannten Pralinengipfels zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg, bei dem eine solch stärkere Zusammenarbeit im militärischen Bereich vereinbart worden ist.

Der Vatikan hat sich in Bezug auf den Verfassungsentwurf vor allem in einem Punkt enttäuscht gezeigt. Ein Bezug auf die christlichen Wurzeln der Europäischen Union zum Beispiel durch die Erwähnung Gottes in der Präambel fehlt. Bereits mehrfach hatte der Konvent Appelle des Papstes in dieser Beziehung ignoriert. Erzbischof Jean-Louis Tauran, Außenminister des Vatikan äußerte in einem Zeitungsinterview dazu, der fehlende Bezug zur Rolle des Christentums sei eine »ideologische Operation« und »ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben«.

Kritik inhaltlicher Art kommt von Umweltverbänden. Denn der Verfassungsentwurf sieht vor, dass der Euratom-Vertrag von 1957 in weiten Teilen als Verfassungsbestandteil übernommen wird. Danach soll weiterhin die Atomenergie gefördert und bevorzugt behandelt werden. Greenpeace Luxemburg beruft sich in einer Presseerklärung vom 27. Mai auf eine Umfrage, wonach 71 Prozent der EU-BürgerInnen für einen Ausstieg aus der Kernenergie seien. Deshalb protestierte die Gruppe am gleichen Tag mit einem großen Banner am Brüsseler Atomium und forderte unter anderem die atomfreien Staaten wie Luxemburg dazu auf, diese Regelung zu verhindern. Nach dem jetzigen Verfassungsentwurf könnte der Atomenergieausbau in Europa weiter mit billigen EU-Krediten gefördert werden. In Deutschland haben sich deshalb Umweltverbände wie BUND, Eurosolar, Greenpeace, NABU, Robin Wood und WWF zusammengetan, um eine Protestmail-Aktion dagegen zu starten.