Über den Tellerrand hinausgeschaut

Anregungen zur Geschichtsschreibung der Homosexualitäten Von Torben Strausdat

Der größte Teil derer, die sich in ihrer Forschung auf die Geschichte der Homosexualitäten konzentrieren, ist selbst homosexuell. Der Grund dafür ist einfach. Die HistorikerInnenzunft, vor allem die LehrstuhlinhaberInnen an den Universitäten, schreckt mehrheitlich vor diesem Teil der Gesellschaftsgeschichte zurück. Neben noch immer bestehenden homophoben Ressentiments spielen dabei wohl auch Desinteresse und ein veraltetes Rollenbild mit. So war Homosexualität lange Zeit negativ besetztes Thema der Psychologie, Medizin und Kriminologie. Geschichtsschreibung ist eben keine Tatsache, sondern auch abhängig von den BetrachterInnen.

Hier soll nun eine kleine subjektive Auswahl aus der Historiographie der Homosexualitäten vorgestellt werden. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland und der Zeit des Nationalsozialismus, leider auch - wie so oft - auf den männlichen Homosexualitäten.

1999 erschien die von Bernd-Ulrich Hergemöller im Rahmen der Reihe Historische Einführungen des Verlags edition diskord geschriebene Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten. Der Autor lehrt mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg, verschweigt nicht sein persönliches erkenntnisleitendes Interesse an der Geschichte der Homosexualitäten und hat zahlreiche Veröffentlichungen über Randgruppen der mittelalterlichen Gesellschaft verfasst. Der Versuch, einen Überblick über die Geschichtsschreibung der Homosexualitäten zu liefern, ist bisher einmalig. Hergemöller geht dabei auf die Theorie- und Methodendiskussion und einzelne Zeitabschnitte vom Europäischen Mittelalter über die Frühe Neuzeit, die NS-Zeit bis zur Berliner Republik ein. Räumlich geht er über Zentraleuropa und die USA jedoch nicht hinaus. Zwar bemängelt Hergemöller Defizite in der Geschichtsschreibung zu homosexuellen Frauen. Selber kommt er aber seinem Anspruch nicht nach und verstärkt diese Defizite, indem er vorhandene Arbeiten nicht aufführt; wie zum Beispiel von Claudia Schoppmann, die zu Recht in ihrer Rezension zu Hergemöller in Invertito selbst darauf aufmerksam macht.

Daneben ist von Hergemöller auch das biografische Lexikon Mann für Mann erschienen, mit dem er drei Ziele zu verwirklichen sucht. Zunächst will er lexigraphische Lücken schließen, die sowohl in der älteren »Urnings- und Homosexuellenforschung« als auch in neueren Lexika bestehen, die Fakten zu gleichgeschlechtlichem Leben oftmals verschweigen. Des Weiteren verfolgt er den Anspruch, einen grundsätzlichen Perspektivenwandel in der Geschichtsschreibung herbeizuführen, da diese die Geschichte bisher als eine der Heterosexualitäten entfaltet. Schließlich beabsichtigt Hergemöller die Dekonstruktion sexualwissenschaftlicher Kategorien und Klassifikationen. Etwa 430 vollständige Biografien und etwa 600 Kurzartikel sind in dieses Lexikon eingearbeitet.

Inzwischen unerlässlich ist das Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten Invertito, das vom Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. herausgegeben wird und seit 1999 im MännerschwarmSkript-Verlag in Hamburg erscheint. Da sich die herrschenden historiographischen Periodika und der Großteil der HistorikerInnenzunft noch immer sträuben, das Thema Homosexualitäten zu bearbeiten, war und ist es notwendig, mit einem eigenen Medium dieser Forschungsrichtung ein Forum zu bieten. Auch hier ist es Ziel, sich dem vorherrschenden heteronormativen Blick der Geschichtsschreibung zu entziehen und entgegen zu stellen.

Der erste Band von 1999 legt das Schwerpunktthema auf die Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1972. Es folgt der Jahrgang 2000 Homosexualitäten in der Weimarer Republik 1919 bis 1933. Der Jahrgang 2001 setzt den Schwerpunkt auf Homosexualitäten und Crossdressing im Mittelalter. Letztes Jahr erschien schließlich der Band Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. Die Redaktion des Invertito achtet darauf, dass die veröffentlichten Arbeiten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, gibt im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Periodika aber auch nicht promovierten WissenschaftlerInnen und nichtakademischen ForscherInnen die Möglichkeit der Veröffentlichung.

Homosexualität und Nationalsozialismus

Einer der bedeutendsten deutschen Historiker für die Geschichte männlicher Homosexueller im Nationalsozialismus ist Rüdiger Lautmann. Zusammen mit Burkhard Jellonnek veröffentlichte er 2002 den Sammelband Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt. Er beinhaltet acht Schwerpunktbereiche: Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich; Frauenliebe im Dritten Reich; Der Homosexuelle und die nationalsozialistische Gesellschaft; Polizei und Justiz; Medizin und Psychiatrie; Homosexuellenverfolgung im besetzten Europa; Wiedergutmachung an homosexuellen NS-Opfern in der Bundesrepublik Deutschland; Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit. Damit ist er der umfangreichste Band zu diesem Thema und für den Einstieg unverzichtbar. Erschienen im Verlag Ferdinand Schöningh ist der Band inzwischen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.

Der Mitherausgeber Rüdiger Lautmann hatte 1977 mit seinem Suhrkamp-Band Gesellschaft und Homosexualität zum ersten Mal eine relativ genaue Aussage über die Zahl männlicher homosexueller Todesopfer der NS-Verfolgung (5000-15000) auf Grund von Quellenstudien machen können. In den USA dauerte es jedoch bis zur Veröffentlichung von Richard Plants The Pink Triangle 1985, um ausufernde Spekulationen über bis zu drei Millionen Todesopfer zu beenden. Im Rahmen dieser Übertreibungen ist auch der Begriff »Homocaust« als unzulässiger Vergleich mit dem Holocaust, der systematischen Vernichtung der Juden, gefallen. Deshalb ist bei der Beschäftigung mit der älteren Sekundärliteratur, in diesem Fall der Siebziger- und Achtzigerjahre, immer auch Vorsicht geboten.

Einige weitere Dokumentationen der Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus sind hier zu nennen. Von Burkhard Jellonnek erschien 1990 Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, eine Studie, die auch einzelne Regionen und Orte (Pfalz, Würzburg und Düsseldorf) betrachtet. In Köln organisierte das Centrum Schwule Geschichte im EL-DE-Haus die Ausstellung Das sind Volksfeinde!, die sich der Kölner »Sonderaktion« gegen Homosexuelle im Sommer 1938 annahm. Die Begleitpublikation von 1998 dazu heißt Das sind Volksfeinde! Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945. Über die homosexuellen Häftlinge im KZ Dachau berichtet Albert Knoll in der Ausgabe Nr. 14 der Dachauer Hefte. Außerdem behandelt Rainer Hoffschildt mit seiner 1999 im Verlag Rosa Winkel erschienenen Monographie Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit. Zahlen und Schicksale aus Norddeutschland die Verfolgung in der Region Niedersachsen und Norddeutschland.

Erwähnenswert, weil Stereotypen aufdeckend, ist zum einen die Arbeit von Alexander Zinn Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zu Genese und Etablierung eines Stereotyps, die 1997 im Verlag Peter Lang erschienen ist. Anhand der Analyse deutscher Exilpresse zwischen 1933 und 1937 wird aufgezeigt, welche Bedeutung das Stereotyp des homosexuellen Nationalsozialisten in der Kritik exilierter deutscher PolitikerInnen und Intellektueller hatte. Dies verhinderte für lange Zeit eine angemessene Wahrnehmung der brutalen Homophobie der Nazis, wie Hans Joas in seinem Geleitwort schreibt.

Über einen längeren Zeitraum betrachtet der von Detlef Grumbach herausgegebene Sammelband Die Linke und das Laster. Schwule Emanzipation und linke Vorurteile diese Problematik, beschränkt sich dabei aber auf die Linke. Er erschien 1995 im Verlag MännerschwarmSkript und umfasst in vier Beiträgen den Zeitraum von 1870 bis in die Achtzigerjahre sowohl der DDR wie auch der BRD.

Um die Rolle der Polizei von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus nicht zu vernachlässigen, sei hier der 1999 in der Reihe Comparativ erschienene Band Polizei und schwule Subkulturen genannt.

Zum Schluss sind über die Zeit des Nationalsozialismus noch vier Biografien zu erwähnen. In Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers von Hans Siemsen wird eindrucksvoll die Erzählung eines aus Deutschland nach Frankreich geflohenen Hitlerjungen wiedergegeben, aus der sich - wenn auch subjektive - Einblicke in Homosexualitäten innerhalb der Jugendbewegung und der Hitlerjugend bis 1936 ergeben. Ähnliche Erlebnisse machte Heinz Dörmer. Seine Biografie Und alles wegen der Jungs. Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer beschreibt das Schicksal eines homosexuellen Jugendlichen in der Bündischen Jugend und zur NS-Zeit.

Die Autobiografie und gad ging zu david. die erinnerungen des gad beck. 1923 bis 1945 schildert Kindheit und Jugend des homosexuellen Sohns einer christlich-jüdischen Familie. Stilistisch ist es wie ein Roman zu lesen, sehr bewegend und bei allem beschriebenen Leid mit dem eigenen, speziellen Humor des sich erinnernden Autors geschrieben. Das Schicksal des homosexuellen Elsässers Pierre Seel ist in seiner Erinnerung Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen nachzulesen. Nur widerwillig und unter seelischen Schmerzen war er erst vor einigen Jahren bereit, überhaupt über das Verbrechen, das deutsche BesatzerInnen ihm antaten, zu sprechen. Die Erinnerungen von Heinz Dörmer, Gad Beck und Pierre Seel sind auch Teil des Dokumentarfilms Paragraph 175 von Rob Epstein und Jeffrey Friedman. Heute ist kein ganzes Dutzend homosexueller ZeitzeugInnen der NS-Verfolgung mehr bekannt. Einige standen diesem Film zur Verfügung, um die Erinnerung wach zu halten. Andere sahen sich nicht dazu in der Lage. Aufgrund des hohen Alters der Betroffenen ist dieser Film ein einmaliges Dokument.