Von MitwisserInnen und MitläuferInnen

Von Raphaela Häuser

»Die Zuhälterfrisur, der Wiener Vorstadtdialekt, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick. Die meisten Leute, die ihm 1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße Feuer geben zu lassen«, schreibt Sebastian Haffner in seiner Geschichte eines Deutschen über Adolf Hitler.

Angefangen mit seiner Kindheit im Ersten Weltkrieg zeichnet der Autor die Entwicklung des Stimmungsbildes in Deutschland bis zum Jahr 1933 aus der selten publizierten Perspektive eines kritischen, konservativen Beobachters - eine kontinuierliche Entwicklung, wenn man Haffner glaubt und mit Sicherheit kein »Bruch«, wie es oft dargestellt wird. Er beschreibt die Jahre ab 1914 mit dem Krieg, der gescheiterten Revolution, der Inflation und der Radikalisierung in der Politik als Nährboden für die nationalsozialistische Ideologie.

Die Geschichte, die Haffner erzählt, charakterisiert er als »Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen anonymen, unbekannten Privatmann«, der sich doch dem System nicht entziehen kann. Haffner schildert eindrucksvoll, wie er und andere PassantInnen bei öffentlichen Märschen der SA in Hauseingänge flüchten, um den Hitlergruß zu umgehen. Und wie sich schließlich die PassantInnen vor ihm in den Hauseingängen verstecken, als er im Rahmen der »weltanschaulichen Schulung« für das Examen als Rechtsreferendar selbst mitmarschieren muss.

Dennoch erscheinen die meisten ZeitgenossInnen weder als WiderständlerInnen noch als kritische BeobachterInnen. Haffner rechnet mit all denen ab, die von nichts gewusst haben wollen und berichtet von öffentlichen Boykottaufrufen, von NachbarInnen, die über Nacht verschwinden, von Kabarettvorstellungen, in denen die Konzentrationslager und die Hausdurchsuchungen offen thematisiert wurden. Und er führt vor Augen, dass die Masse nicht gelähmt zuschaute, sondern sich auch beteiligte. Die MitläuferInnen - ob aus Angst oder aus Überzeugung - bezeichnet er als Hitlers »große, lose Gefolgs- und Wählerschaft von Urteilslosen, Enttäuschten und Verarmten«. Der Autor selber emigrierte 1938 - angewidert von der politischen Stimmung - nach England.

Wesentlich für Haffners Schilderungen ist, dass hier die Erinnerungen eines »Durchschnittsmenschen mit vielen Schwächen« vorliegen - weder politisch engagiert, noch direkt vom System verfolgt - und dass an diesem persönlichen Blick auf die Ereignisse sehr anschaulich der Einfluss des Politischen auf das Private beschrieben wird.

Haffners 1939 verfassten und im Jahr 2000 erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen erschienen im Juni 2002 in einer Neuauflage. Das Manuskript wurde ergänzt um das bisher fehlende Kapitel 25 und um eine Fortsetzung der Erinnerungen bis zum Dezember 1933. Die beiden zusätzlichen Manuskriptteile wurden im März 2002 im Bundesarchiv entdeckt. Bleibt zu hoffen, dass die von Haffner zumindest geplanten und vielleicht auch verfassten weiteren Kapitel für die späteren Jahre noch auftauchen.

Warum er seine privaten Erinnerungen aufgezeichnet hat und welche Wirkung er sich davon verspricht, hat Haffner im Prolog ausgedrückt: »Ich habe nichts dagegen, dass man nach der Lektüre alle die Abenteuer und Wechselfälle wieder vergisst, die ich erzähle. Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ich verschweige, nicht vergäße.«

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, dtv, Stuttgart/München 2002, 9,50 Euro.