Unser Dorf soll schöner werden

Die »Rekonstruktion« des Berliner Stadtschlosses hat mit Denkmalschutz nichts zu tun. Der Bau zeigt keine Geschichte, sondern simuliert sie lediglich. Von Andrew MacNeille

Am 5. Juli 2002 beschloss der Bundestag, im Zentrum von Berlin an der Stelle des Palastes der Republik einen Neubau zu errichten, der die nachgebildeten Fassaden des 1950 an dieser Stelle zerstörten Stadtschlosses tragen soll.

Immer wieder wird von einer »Rekonstruktion« des Schlosses gesprochen und geschrieben. Es muss aber betont werden, dass es sich nicht um eine vollständige Nachbildung des zerstörten Schlosses handeln soll, sondern um einen Neubau, der Dimensionen und Kubatur des Schlosses aufweisen und an drei Seiten Nachbildungen der barocken Schlossfassaden tragen soll.

Das Berliner Stadtschloss ging in seinen Anfängen auf eine Burganlage aus dem 15. Jahrhundert zurück und wurde vom 17. bis ins 19. Jahrhundert zur aufwändigen barocken Stadtresidenz der preußischen Könige ausgebaut. Nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde die Ruine am 7. September 1950 auf Beschluss der DDR-Regierung gesprengt. An ihre Stelle trat zunächst eine Tribüne für große Aufmärsche. Von 1974 bis 1976 wurde an deren Stelle der Palast der Republik, Sitz der DDR-Volkskammer, erbaut. Dieser wiederum musste bereits 1990 aufgrund von Asbestbelastungen wieder geschlossen werden. Die Diskussion um die künftige Gestaltung des städtebaulich sensiblen Berliner Zentrums mündete 1999 in die Gründung einer ExpertInnenkommission. Diese schlug einen Wiederaufbau des Schlosses mit einer Nachbildung der historischen Fassaden vor. Eine Empfehlung, der sich der Bundestag anschloss.

Zuzuhören, wenn sich PolitikerInnen zu Fragen von Kunst und Architektur äußern, ist eine teils amüsante und häufig peinliche Beschäftigung. Die Stadtschlossdebatte im Bundestag bildete keine Ausnahme. Der CDU-Abgeordnete Norbert Lammert stellte fest, das Schloss sei Gravitationszentrum der städtebaulichen Entwicklung Berlins gewesen. Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) wollte »etwas rekonstruieren, was von ganz großer Bedeutung war.« Dies sei »keine Nostalgie« und kein Bekenntnis zum preußischen Militarismus. Günter Rexrodt (FDP) sah in den nachgebildeten Fassaden den Ausgangspunkt für ein neues Bewusstsein, einen Teil deutscher Identität, die man auf dem Wege nach Europa brauche.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) trug noch ein wenig Provinzialismus zur Debatte bei. Er wird mit den Worten zitiert, das Schloss sei »das bedeutendste Kulturdenkmal in Deutschland« gewesen. Das ist erstens Quatsch und zweitens Ausfluss eines lächerlichen Lokalpatriotismus, der die Existenz einer Welt außerhalb der selbst ernannten Metropole noch nicht wahrgenommen hat und es nicht ertragen kann, wenn andere Orte der Republik Größeres, Älteres, Schöneres oder Bedeutenderes besitzen.

Die Abgeordneten Petra Pau (PDS) und Eckart von Klaeden (CDU) wollten immerhin einige Elemente des Palastes der Republik in die künftige Gestaltung integrieren und bezogen sich dabei vor allem auf den Volkskammersaal. Dessen historische Bedeutung wurde durch von Klaeden allerdings auf seine Funktion als Schauplatz des Beschlusses der Wiedervereinigung reduziert.

Versucht man, aus diesen Beiträgen eine Linie herauszulesen, so steht am Anfang die Ansicht, dass Barockfassaden schön sind, während der Palast der Republik als hässlich gilt. Mit Barockfassaden lassen sich auch mit Sicherheit mehr WählerInnenstimmen gewinnen als mit einem Siebzigerjahre-Betonbau: Unser Dorf soll schöner werden!

Zweitens steht da die Tatsache, dass der Palast der Republik als Parlamentsgebäude der DDR für ein Stück ungeliebter Geschichte steht, welche schnellstmöglich aus dem Zustand der konkreten Sicht- und Erlebbarkeit getilgt werden soll. Bezeichnend ist dabei die selektive Auswahl des Volkskammersaales als erhaltenswertem Versatzstück, welches sich in das eigene Geschichtsbild einfügen und als Instrument der damit verbundenen Glorifizierungsstrategie nutzen lässt.

BefürworterInnen einer städtebaulichen Lösung mit Barockfassaden legitimieren ihre Vorstellungen gerne damit, dass in fast allen deutschen Städten nach dem Krieg zerstörte Baudenkmale wiederaufgebaut oder rekonstruiert wurden. Genannt werden - quer durch die Presse - immer wieder das Goethehaus und die Paulskirche in Frankfurt, die Münchner Residenz, das Rathaus in Münster und die romanischen Kirchen in Köln. Diese Vergleiche sind unzulässig. Sie übersehen, dass der Wiederaufbau dieser Baudenkmäler unmittelbar oder zumindest sehr bald nach dem Krieg beschlossen war und mit den konkreten Aufbaumaßnahmen direkt aus den Trümmern hinaus begonnen wurde. Der Wiederaufbau der Kölner Kirchen dauerte bis in die Achtzigerjahre und wurde damit selbst zu einer Konstante der Kölner Nachkriegsgeschichte. In Berlin stellt sich die Situation anders dar: Das Stadtschloss existiert seit fünfzig Jahren nicht mehr. Nichts verweist vor Ort auf seine ehemalige Existenz. Die städtebauliche Situation hat sich verändert. Die Abwesenheit des Schlosses ist inzwischen selbst historisches und städtebauliches Ereignis, gewissermaßen eine Konstante der Berliner Nachkriegsgeschichte, ebenso wie die - wenig liebenswerte - Anwesenheit des Palastes der Republik.

Die Tatsache, dass nur Fassaden nachgebildet werden sollen, verstärkt den Eindruck, dass hier eine Kulisse inszeniert werden soll. Ein rein optischer Effekt, der vielleicht alle möglichen nostalgischen Alt-Berliner Assoziationen erwecken mag, unter keinen Umständen aber ein historisches Baudenkmal, geschweige denn Thierses »bedeutendstes Kulturdenkmal« sein kann.

Sucht man Parallelen zu diesem Phänomen, finden sich diese beispielweise auf dem Römerberg in Frankfurt am Main. Dort wurden Anfang der Achtzigerjahre einige im Krieg restlos vernichtete Fachwerkhäuser nachgebildet. Der Denkmals- und historische Zeugniswert dieser Häuser ist gleich Null. Sie bilden einen verlorengegangenen Zustand ab, projizieren ein historisches Bild in die Jetztzeit: Geschichtssimulation, eine quasi virtuelle Welt. Ihre vornehmliche Aufgabe besteht darin, eine fotogene Kulisse für TouristInnen und Weihnachtsmärkte zu bilden. In Frankfurt fehlte über Jahrzehnte hinweg der Wille und wohl auch der Mut, eine gelungene Gestaltung in modernen, zeitgemäßen Formen anzustreben. Die nachgebildeten Frankfurter Fachwerkhäuser sind von Fachleuten und -presse äußerst ungnädig als »Puppenstuben« und als Fluchtverhalten vor den Realitäten der modernen Großstadt verspottet worden. Dem Berliner Zentrum droht ein ähnliches Schicksal. Wer nicht glaubt, dass in Nachbarschaft historischer Bauten gelungene moderne Architektur entstehen kann, dem sei ein Ausflug zu Richard Meiers großartigem Stadthaus neben dem Ulmer Münster empfohlen.

Einige Abgeordnete, unter anderem Eckhardt Barthel (SPD), Franziska Eichstädt-Bohlig (Grüne) und Thomas Flierl (PDS) wollten aus diesen Überlegungen hinaus einen offenen architektonischen Wettbewerb, der moderne Lösungen zulassen sollte, durchgeführt wissen. Die Mehrheit der Abgeordneten mochten ein solches Wagnis nicht eingeben und folgten lieber dem »Sehnsuchtsbild« (Flierl) des historischen Schlosses: keine Experimente!

Die Befürchtungen, die sich an ein Stadtschloss mit Barockfassaden knüpfen, werden auch dadurch nicht ausgeräumt, dass es »nicht um den Wiederaufbau des Schlosses insgesamt geht, sondern um einen modernen Bau, der Geschichte zeigt, ohne zu verstecken, ein moderner Bau zu sein« (Thierse). Erstens zeigt der Bau nicht Geschichte, sondern simuliert sie. Und zweitens wird das Bauwerk im Stadtbild durch seine Fassaden in Erscheinung treten - und die werden barock sein. Das Schloss wird aussehen, als habe man nach dem Krieg einer erhalten gebliebenen barocken Schale ein modernes Innenleben implantiert, wie beispielweise am Neuen Schloss in Stuttgart. Geschichte findet so nicht als ablesbarer Ablauf konkreter Ereignisse und Prozesse statt, sondern als beliebig ein- und ausschaltbares Happening. Dass dabei mit dem Palast der Republik ein Bauwerk verschwindet, welches für sich durchaus in Anspruch nehmen kann, authentisches Geschichtsdenkmal zu sein, wird bewusst in Kauf genommen. Der tatsächliche Denkmalswert eines Bauwerkes orientiert sich nicht an seinem Alter und erst recht nicht an seiner Schönheit.

Andrew MacNeille schreibt an der Universität Köln gerade seine Doktorarbeit über Städtebau und Denkmalschutz.