Welche Solidarität?

Der Schulterschluss der Streikenden mit Gewerkschaften, SchülerInnen und Eltern ist bisher noch nicht geglückt. Von Raphaela Häuser

Knapp zwei Wochen nach Ausbreitung der Streikwelle an nordrhein-westfälischen Hochschulen haben sich die StudentInnenproteste vorwiegend auf die Forderung nach Studiengebührenfreiheit reduziert und geraten damit in der Presse zunehmend in Kritik. Die zu Beginn des Streiks formulierten Forderungen nach Rücknahme der Streichungspläne bei den Zuschüssen für die StudentInnenwerke, gesicherten Arbeitsverhältnissen für den wissenschaftlichen Mittelbau und Rücknahme der 40-Stunden-Woche für Angestellte und BeamtInnen der Hochschulverwaltung werden nicht ausreichend öffentlich gemacht und sind teilweise unter den Tisch gefallen.

Gerade die Konzentration der StudentInnenschaft auf die Situation an den Hochschulen provoziert jedoch die verbreiteten Klischees von den StudentInnen als »egoistische Kinder der Bourgeoisie und des Angestelltentums,« wie die taz schrieb. Friedrich Wilke, wissenschaftspolitischer Sprecher der FDP im Landtag, warf den StudentInnen anlässlich einer Podiumsdiskussion an der Universität Köln vor, auf Kosten der steuerzahlenden Putzfrau zu studieren. Diese Bilder werden von der Presse bereitwillig aufgegriffen: Fast durchgängig ist die Rede von StudentInnen, die fürchten, ihr eigenes Studium nicht »kostenlos« beenden zu können.

In der Resolution des NRW-weiten Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS NRW) findet sich indes die Forderung nach ausreichenden Finanzmitteln für alle öffentlichen Bildungseinrichtungen sowie sozialer Absicherung der BildungsteilnehmerInnen. »StudentInnen dürfen nicht gegen SchülerInnen, Auszubildende nicht gegen Kindergartenkinder ausgespielt werden. Das gesamte deutsche Bildungssystem sorgt in erschreckendem Maße für soziale Selektion«, heißt es beim ABS NRW weiter.

Übersehen wird in der Protestbewegung dennoch allzu oft, dass die strukturellen Mängel in allen Bildungsbereichen die gleichen sind: Zum einen ist das deutsche Bildungssystem eklatant unterfinanziert, zum anderen steht das Maß der Bildungsbeteiligung in direktem Zusammenhang mit dem sozialen Hintergrund der BildungsteilnehmerInnen. Die Folgen sind grundsätzlich mangelhafte Ausbildung und eine Benachteiligung der Kinder aus finanziell schwachen Familien.

Eine Studie aus Berlin stuft bereits zwei Drittel der Vorschulkinder als »praktisch nicht schulfähig« ein. Grund dafür seien unter anderem die »miserablen Sprachkenntnisse« sowohl ausländischer als auch deutscher Kinder. Der Mangel an Kindergartenplätzen zeigt seine Folgen: GrundschülerInnen sind häufig auf die Lernsituation nicht ausreichend vorbereitet. Vielen Kindern, die nicht die Möglichkeit hatten, einen Kindergarten zu besuchen, mangelt es an Sozialkompetenz.

Die Ergebnisse der PISA-Studie bestätigen die Abhängigkeit der Bildungschancen vom sozialen Status der Eltern. Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland verschärft die Selektion. Während rund fünfzig Prozent der Kinder mit Eltern aus »oberen Dienstklassen« das Gymnasium besuchen, sind es bei den ArbeiterInnenkindern lediglich zehn Prozent. Erhebliche soziale Ungleichheiten seien auch bei kognitiven Grundfähigkeiten und Lese- und Fachkompetenzen nachweisbar. Nach den Ergebnissen der PISA-Studie schnitten vor allem Länder, die wie Deutschland ein mehrgliedriges Schulsystem haben, besonders schlecht ab.

Laut der 16. Sozialerhebung des Deutschen StudentInnenwerks sank die Studierquote der Studienberechtigten seit Anfang der Neunzigerjahre von 76 auf 65 Prozent. Innerhalb der Gruppe der StudentInnen tut sich ein beachtliches Gefälle auf: Die StudienanfängerInnenquote in den neuen Bundesländern liegt mit 23 Prozent der 19- bis 24-jährigen unter der der alten Bundesländer mit 36 Prozent.

Das StudentInnenwerk sieht eine hohe Korrelation zwischen der beruflichen Stellung der Eltern und der Bildungsbeteiligung. In den letzten Jahren haben sich die statusabhängigen Unterschiede verstärkt: Es ist ein deutlicher Zuwachs bei der Bildungsbeteiligung der Kinder von BeamtInnen und Selbständigen zu beobachten, während die Quote der ArbeiterInnenkinder in den letzten Jahren auf niedrigem Niveau stagniert. Fast drei Viertel der BeamtInnenkinder, 60 Prozent der Kinder von Selbstständigen und FreiberuflerInnen aber nur 37 Prozent der Angestelltenkinder und lediglich 12 Prozent der ArbeiterInnenkinder gelangen an die Hochschule.

Statistisch gesehen stellen die beiden letztgenannten Herkunftsgruppen einen beträchtlichen Teil der so genannten LangzeitstudentInnen. Kinder aus finanziell schwächeren Familien sind zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu einer vergleichsweise hohen Erwerbstätigkeit gezwungen. »Hierbei handelt es sich zum größten Teil um ehemalige BAföG-Bezieher, die überwiegend aufgrund der Überschreitung der Förderungshöchstdauer oder eines Fachwechsels den BAföG-Anspruch verwirkt haben«, so das StudentInnenwerk weiter.

Die StudentInnen wenden durchschnittlich 36 Stunden in der Woche für ihr Studium auf, hinzu kommt eine durchschnittliche Erwerbstätigkeit von 13,9 Stunden, immerhin jedeR sechste StudentIn jobbt mehr als 20 Stunden wöchentlich. Knapp zwei Drittel der StudentInnen tragen zur Bestreitung ihrer Lebenshaltungskosten durch eigenen Verdienst neben dem Studium bei - für fünf Prozent ist dies die alleinige Finanzierungsquelle. Ausschließlich von der BAföG-Förderung lebt nur ein Prozent der StudentInnen. Die angekündigte Strukturreform des BAföG wurde von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestoppt, der erwartete Anstieg der Zahl der BAföG-EmpfängerInnen von den StudentInnenwerken bisher nicht bestätigt.

»Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird«, zieht die PISA-Studie Bilanz. Demnach potenziert sich die soziale Selektion immer wieder an den Übergängen von einer Bildungseinrichtung zur nächsten. Studiengebühren treffen damit zwar nur den kleinen privilegierten Teil der BildungsteilnehmerInnen, die noch nicht durch das Raster gefallen sind - aber auch hier sind wieder die ohnehin finanziell und sozial benachteiligten Gruppen besonders stark betroffen.

Soll die Protestbewegung Erfolg haben, ist es unerlässlich, sie durch Einbeziehung von Angestellten und DozentInnen an den Hochschulen sowie Eltern und SchülerInnen auf eine breitere Basis zu stellen und auf die StudentInnenwerke und Gewerkschaften zuzugehen. Bezeichnenderweise provozierte auf der Vollversammlung der Philosophischen Fakultät am 12. Juni gerade ein Antrag auf Solidarisierung mit den zurzeit ebenfalls streikenden Gewerkschaften eine beträchtliche Anzahl von Gegenstimmen. Die Resolution wurde dennoch mit der Mehrheit der Stimmen verabschiedet.