Repression und Gesellschaft im Nationalsozialismus: Zwei neue Studien

Von Jörg Huwer

Alltagsgeschichtliche Untersuchungen zu den Strukturen des NS-Staates zeigten, dass das NS-Herrschaftsystem keineswegs über eine in sich geschlossene Kompetenzverteilung verfügte. Ungeachtet der herausgehobenen Position Hitlers und der Berliner Führung zeichnete sich der NS-Machtapparat durch eine Vielzahl lokaler und regionaler Machtzentren von staatlichen, polizeilichen und Parteiorganisationen aus.

Die Erfassung dieser polykratischen Strukturen eröffnete eine neue Sicht auf die Frage, wie umfassend der Alltag der Bevölkerung von einer Atmosphäre aus Terror und Verfolgung geprägt war. Dabei kamen HistorikerInnen Ende der Achtzigerjahre zu dem Ergebnis, dass die Vorstellung eines lückenlosen Überwachungs- und Kontrollapparates Orwellscher Prägung - gebündelt im mystifizierten Bild einer allgegenwärtigen und allwissenden Gestapo - nicht haltbar war. Das Interesse musste sich damit auf das Verhalten der gewöhnlichen Deutschen richten. Zwangsläufig kam die Frage von Schuld und Entschuldigungen der Bevölkerung wieder auf.

Mit dem Anspruch, die Studien zur Tätigkeit lokaler Polizei- und Justizorgane im Nationalsozialismus durch neue Impulse zu ergänzen und zugleich den bisherigen Stand der Forschung zusammenzufassen, legten nun Eric A. Johnson und Robert Gellately zwei neue Studien vor. Johnson, Professor an der Central Michigan University, bearbeitete von 1992 bis 1996 ein Projekt am Zentralarchiv für empirische Sozialforschung Köln. Dabei konnte er das Datenmaterial für sein aktuelles Buch zusammenstellen: Zufallsauswahlen in Höhe von knapp 1100 Gestapo- und Sondergerichtsakten aus den Orten Köln, Bergheim und Krefeld, eine Umfrage unter fast 300 älteren KölnerInnen und mehrere Einzelinterviews.

Einleitend gibt Johnson eine Übersicht über Struktur und Personal der Verfolgungsinstanzen aus den drei Städten. Dabei versteht er es, die Informationen zu Laufbahn und Tätigkeitsfeld der Behördenmitarbeiter anschaulich zusammenzufügen. Er liefert nicht nur ein Schema des Ablaufs bürokratischer Verfolgung, sondern auch Einblicke in die Mentalität der konkreten Akteure. Im Hauptteil des Buches wird die Praxis nationalsozialistischen Terrors behandelt, thematisch gegliedert in die einzelnen verfolgten Personengruppen. Johnson geht dabei auf die Verfolgung linker Gruppen wie etwa Frechener KommunistInnen ein, zudem stellt er die Repressionen gegen die Zeugen Jehovas dar. Der Fall des im Rheinland populären regimekritischen Jesuitenpaters Josef Spieker illustriert Kontrolle und Verfolgung religiös motivierter Formen des Widersetzens.

Intensiv untersucht Johnson den Umgang mit der jüdischen Minderheit von der Diskriminierung bis zum Holocaust. Zunächst gestaltete sich dabei die Lage der JüdInnen in Köln weniger kritisch als vermutet. Gerade diese anfängliche Zurückhaltung habe, so Johnson, fatale Folgen gehabt: »Am Ende wurden die Juden nicht nur Opfer des Terrorapparates (…), sondern zu einem Teil auch der Freundlichkeit und Anständigkeit wohlmeinender deutscher Freunde und Nachbarn«. Nicht nur SS, SD, Gestapo und Kripo wirkten an der Ermordung der Verfolgten mit, sondern auch »Amtsärzte, Putzfrauen, Bankangestellte, Versicherungsagenten, Auktionatoren, Arbeitgeber, Meldebehörden, Eisenbahnarbeiter, NSDAP-Funktionsträger, Wehrmachtsangehörige und viele andere«.

Anhand solcher Befunde stellt Johnson in drei Kapiteln die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Terror, Gestapo und »gewöhnlichen« Deutschen. Die nicht ins Visier genommene Bevölkerung akzeptierte stillschweigend und überwiegend die Verfolgungen, dafür trat die Gestapo im Gegenzug weniger aktiv bei der Ahndung kleinerer Vergehen der »normalen« BürgerInnen wie dem ›Schwarzhören‹ ausländischer Radiosender auf, so das Ergebnis seiner Untersuchung. Die Gestapo und der von ihr ausgeübte Terror seien stark »selektiv« gegen klar bestimmte gesellschaftliche Minderheiten aufgetreten.

Johnsons Studie überzeugt durch die sorgfältige Präsentation seines historischen Materials. Längere Auszüge aus diversen Quellen bereichern die flüssig geschriebene Darstellung. Allerdings orientiert er sich bei der Formulierung seiner Thesen zu stark an den »klassischen« Akteuren des Terrors, den Behörden und Dienststellen. Damit tritt die Mitwirkung der Bevölkerung an Terror und Verfolgung in den Hintergrund, obwohl Johnson selbst im Großteil der von ihm ausführlich aufgeführten Fälle Anzeigen der BürgerInnen als Ausgangspunkt der Gestapoermittlungen feststellt.

Das Ausmaß von Denunziationen und deren Bedeutung für den Alltag im Nationalsozialismus hat Robert Gellately, Professor am Zentrum für Holocauststudien der Clark University in Massachusetts, Anfang der Neunzigerjahre untersucht. Demnach war die Gestapo auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen - aufgrund ihrer geringen personellen Dichte und des Umstands, dass viele der im NS-System strafbaren Vergehen im privaten und intimen Raum verübt wurden. Soziale Kontrolle im Verbund mit der Möglichkeit, die Sanktionsinstanzen des NS-Verfolgungsapparates für eigene Zwecke zu nutzen, hätten zum Phänomen einer »self-policing society« geführt.

Mit seinem neuen Buch erweitert Gellately seine früheren Ergebnisse um eine nähere Betrachtung des Systems von Zustimmung und Zwangsmaßnahmen. Ihn interessiert, wie groß das Wissen der »gewöhnlichen« Deutschen über das Ausmaß der Verbrechen im ›Dritten Reich‹ war und welchen Anteil sie an der Ausgestaltung des Regimes hatten. Daher konzentriert er sich weniger auf verdeckte und interne Aktivitäten der politischen Polizei. Vielmehr interessiert ihn die (ver)öffentliche Kenntnis über das Terrorsystem. Systematisch sucht er dazu Ansatzpunkte im Alltagsleben der Deutschen und wertet deren Informationsmöglichkeiten aus. Das dafür notwendige Quellenmaterial - eine umfangreiche Auswahl von Gestapoakten, Stimmungsberichten und Presseartikel - gestaltet sich vielfältig, was ihm von Teilen der deutschen HistorikerInnenzunft den Vorwurf einer »Kraut und Rüben«-Methodik einbrachte.

Dessen ungeachtet erweist sich das Konzept der Studie als überlegt: Die Kapitel - beispielsweise zum System der Konzentrations- und Arbeitslager, Repressionen gegen JüdInnen und ZwangsarbeiterInnen sowie die Presseberichterstattung zu diesen Themen - fügen sich zu einer Gesamtdarstellung des alltäglichen Terrors zusammen. Dieser wird neben seiner furchtbaren, aber strukturell eher selektiven Realität als soziale Konstruktion erfasst, an deren Aufbau die Bevölkerung mitbeteiligt war. Deren Mitglieder wurden, so Gellately, keineswegs durch Manipulation zu dumpfen MitläuferInnen gemacht. Im Gegenteil: Die Propaganda musste sorgfältig an die Mentalitäten der AdressatInnen ausgerichtet werden, um die gewünschte Radikalisierung zu erzielen. Die Bevölkerung nahm Appelle des Regimes an das »gesunde Volksempfinden« mehrheitlich begeistert auf, wenn sie diese mit ihren traditionellen Werten wie etwa Ordnungsliebe in Einklang bringen konnte. Besonders das Vorgehen gegen die als gemeinschaftsfremd und parasitär diffamierten Gruppen der JüdInnen, FremdarbeiterInnen und ›Asoziale‹ stieß dann auf Zustimmung. Auch ambivalent erscheinende Aspekte des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und NS-Machtapparat - beispielsweise wurde die Gestapo aufgrund ihrer Effizienz gleichzeitig gelobt und gefürchtet - hätten zu einem sich gegenseitig verstärkenden Zusammenspiel von Behörden und Bevölkerung geführt.

Gellatelys Ergebnisse fördern das Verständnis für die Komplexität sozialer Mechanismen im NS-Staat. Er enthält sich griffiger aber verkürzender Formeln, was seine Studie nur überzeugender macht.

Eric A. Johnson: Der nationalsozialistische Terror. Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche, Siedler-Verlag, Berlin 2001, 34 Euro.

Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, DVA, Stuttgart 2002, 29,90 Euro.