Weltberühmt seit Seattle

Eine kurze Geschichte der Welthandelsorganisation WTO Von Gerhard Klas

Die Welthandelsorganisation ist spätestens seit dem 30. November 1999 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. An diesem Tag trafen sich RegierungsvertreterInnen und KonzernchefInnen zurMillenniumsrunde in Seattle und lösten damit die größte Demonstration in den USA seit den Antikriegsprotesten 1968 in Chicago aus.

Die WTO, die für grenzenlosen Handel von Waren und Dienstleistungen eintritt, ist aus vielen Gründen auch nach Seattle ein Stein des Anstoßes geblieben. Gewerkschaften fürchten einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen und schlechtere Arbeitsbedingungen, Umweltorganisationen kritisieren die umwelt- und artenschädigende Methode der Streitschlichtung bei der WTO, VerbraucherInnenschutzverbände sehen die Rechte der KonsumentInnen gefährdet, BäuerInnenverbände aus Europa bangen um Subventionen und Regierungen der Entwicklungsländer sowie Dritte-Welt-Gruppen sehen ein weiteres Auseinanderdriften zwischen Nord und Süd durch die WTO-Politik herbeigeführt.

Bisher haben die Entscheidungen der WTO diese Kritik weitgehend bestätigt. Seit 1995 legt sie als einzige international anerkannte Vertragsinstitution die Regeln im Welthandel fest. Neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, zuständig für den internationalen Finanzsektor, ist die WTO die dritte supranationale Institution mit entscheidendem Einfluss, die eng mit den beiden anderen kooperiert. Ihre Entscheidungen sind für das ökonomische Geschehen auf dem Globus von einschneidender Bedeutung: Zwischen den mittlerweile 142 Mitgliedsstaaten werden neunzig Prozent des Welthandels abgewickelt.

Entsprechend der drei WTO-Säulen gibt es je einen Rat für Waren, Dienstleistungen und geistiges Eigentum. In allen Bereichen gilt das Prinzip der Meistbegünstigung: Alle handelspolitischen Zugeständnisse, die sich zwei Mitgliedsstaaten untereinander machen, gelten automatisch auch gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten. Einzige Ausnahmen sind Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen wie die EU oder die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA, die ihre interne Handelspolitik selbstständig bestimmen können.

Das Primat der Ökonomie ist unantastbar: Die Bestimmungen zur gegenseitigen Handelserleichterung in der WTO schließen auch Sonderzölle und -behandlungen aus politischen Gründen aus. Gemäß dieser sogenannten Nichtdiskriminierung wären etwa die handelspolitischen Boykotte gegenüber dem Apartheidsregime in Südafrika nicht WTO-konform gewesen.

Die Biographie von Michael Moore, dem amtierenden Generaldirektor, der die WTO-Behörde in Genf leitet und von der mindestens alle zwei Jahre tagenden Ministerkonferenz gewählt wurde, liest sich wie ein Zugeständnis an die Kritik aus den Entwicklungsländern und von Nichtregierungsorganisationen. Als ehemaliger Sozialarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär scheint Moore nicht den neoliberalen Klischees zu entsprechen. Mit dem Neuseeländer steht erstmals ein Nicht-Europäer an der Spitze der Welthandelsorganisation. Seine erste Rede als Direktor hielt er im September 1999 in Marrakesch auf einem Treffen der Gruppe der 77, einem Zusammenschluss von Ländern aus der sogenannten Dritten Welt, die sich als gemeinsame Interessenvertretung gegenüber den Industrienationen verstehen. »Die WTO ist eine Familie, in der jedes Mitglied seinen gleichberechtigten Platz am Tisch hat«, ließ er seine ZuhörerInnen wissen.

Tatsächlich funktioniert die WTO formal nach dem Prinzip »ein Land, eine Stimme« - mit Ausnahme der EU, deren Stimmen in der Hand des EU-Außenhandelskommissars Pascal Lamy gebündelt sind. Das unterscheidet die WTO von einer Institution wie dem IWF, wo die Stimmenanteile nach den finanziellen Einlagen gemessen werden. Den Entwicklungs- und Schwellenländern kommt deshalb eine besondere Rolle zu. Ihre kollektive Abwehrhaltung gegenüber der Politik der Quad-Gruppe (USA, Kanada, Japan und EU) in der WTO hatte die letzte MinisterInnenkonferenz in Seattle zum Scheitern gebracht. Zuvor war es der Quad-Gruppe immer wieder gelungen, ihren Informationsvorsprung für sich auszunutzen.

Nun stehen die Forderungen der Entwicklungsländer zumindest bei den öffentlichen Verlautbarungen der WTO an erster Stelle. Der designierte Nachfolger Michael Moores, Supachai Panitschpakdi aus Thailand, kommt aus einem Schwellenland, das im Zuge der Asienkrise die negativen Seiten der kapitalistischen Weltwirtschaft erfahren hat. Von gerechten Bedingungen in der WTO könne bisher keine Rede sein, weder in puncto Verhandlungsmacht noch was die existierenden Handelsbedingungen für Entwicklungsländer betreffe, so Supachai Anfang September auf einer internationalen Konferenz zu Ernährungsfragen in Bonn.

Was Supachai vertritt, trifft auch auf die meisten Regierungen in den Entwicklungsländern zu: Sie kritisieren mehrheitlich nicht die Liberalisierung des Weltmarktes, sondern fordern ihre konsequente Umsetzung, wie zum Beispiel die Eliminierung von Importquoten in der Textilindustrie und die Beseitigung von Subventionen in der Agrarwirtschaft. Ihre Kritik richtet sich gegen ein System, das der Quad-Gruppe einen mehr oder weniger versteckten Protektionismus durch eine Reihe allgemein formulierter Ausnahmeklauseln zugesteht, der in den Entwicklungs- und Schwellenländern aber durch Entscheidungen des Schiedsgerichts sanktioniert wird.

Auch das Schiedsgericht selbst, der Dispute Settlement Body (DSB) und die Berufungsinstanz Appellate Body, sind so strukturiert, dass die Länder der Dritten Welt keine Möglichkeit haben, ihre Interessen gegenüber der Quad-Gruppe durchzusetzen.

Die ehemaligen Generaldirektoren der WTO und ihrer Vorläuferorganisation GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) sahen schon vor dem 11. September und vor den Ereignissen in Genua das gesamte Welthandelssystem in Gefahr. Ursache dafür seien die handelspolitischen Spannungen zwischen der EU und USA, vor allem im Agrarhandel und der Steuerpolitik, die zunehmende Fragmentierung des globalen Handelssystems durch regionale und bilaterale Handelsabkommen und die Kritik an der Arbeit internationaler Institutionen, die seit dem gescheiterten Gipfel von Seattle beständig zunehmen würden.

Gerhard Klas ist Redakteur der Sozialistischen Zeitung - SoZ, www.soz-plus.de.