Gespräche von der Straße

Ein Bus versorgt Hamburger Obdachlose nachts mit heißem Kaffee und Brötchen. Vielen von ihnen ist ein Gespräch mindestens genauso wichtig. Schön sind ihre Themen allerdings nicht. Von Julia Groth

Es ist kühl und windig, halb elf nachts, und der dicke, blasse Junge in dem weiten St.-Pauli-Kapuzenpulli und der kurzen Jeans sieht aus, als sei er gerade einmal zwölf. Viel älter kann auch die zugedröhnte Person neben ihm nicht sein - vielleicht ein Junge, vielleicht ein Mädchen -, trotz mehrerer Ringe in der Unterlippe. Hamburg, Helgoländer Allee, unter einer Brücke. Ein älterer Punk in Tarnfleckhose leuchtet mit einer Taschenlampe ein gutes Dutzend Menschen ringsum an, ein Ghettoblaster brüllt Punkmusik. Gäbe es NachbarInnen, würden sie sich beschweren. Es gibt aber keine. Nur den Mitternachtsbus.

An der Heckklappe des Busses steht Sonja, klein, schlank, federnder Gang, und verteilt Tee, Kaffee und Sahnekakao an die Kinder und die anderen. Neben ihr hilft Jan, Sozialpädagogikstudent mit Antifa-Ansteckern, bei den Getränken. Und an der Seitentür gibt Sven, ein blonder Hüne mit Bürstenhaarschnitt und gutmütigem Lächeln, Brötchen aus und Laugengebäck, Pizzastücke und Kuchen - alles früher am Abend bei einer Bäckerei abgeholt, die Reste des Tages, 15 Körbe voll. Als alle versorgt sind, fährt der dunkelgrüne Kleinbus weiter. Drinnen duftet es nach Pflaumenkuchen. Sonja kaut an einer Laugenstange. »Es ist schon bitter, Kinder auf der Straße leben zu sehen«, sagt sie.

Seit etwa einem Jahr fährt Sonja im Mitternachtsbus mit, einmal im Monat. Der Bus fährt jede Nacht, als Hilfsangebot der Diakonie, beladen mit Backwaren, Getränken und wechselnden ehrenamtlichen Teams aus jeweils zwei bis vier Personen. Die Runde dauert etwa vier Stunden. Feste Haltestellen sind der Altonaer Bahnhof und der Gerhard-Hauptmann-Platz; ansonsten hält das Bus-Team dort, wo sich Obdachlose treffen.

»Noch mal n Pläuschchen, noch mal n Kaffee und n Brot. So ist das gedacht«, sagt Sonja. Sie arbeitet als Chemikerin, ist Anfang vierzig und wollte, wie sie sagt, »noch mal was anderes machen«. Inzwischen nimmt sie die Stadt ganz anders wahr: Dieselben Plätze, an denen tagsüber die Autos vorbeifahren und wo gut angezogene Menschen einkaufen gehen, gehören nachts den Obdachlosen. »Die meisten wollen sich nur unterhalten«, sagt Sonja. Die Gespräche drehen sich dabei um das Einzige, was die Obdachlosen haben: ihr Leben. Auf der Straße.

Unter der Kennedybrücke ist es etwas anders. Um viertel vor elf sind fast alle schon im Bett. Bett, das ist hier ein Schlafsack in einem zum Fluss hin offenen Zelt. Auf dem improvisierten Campingplatz gibt es einen Neuankömmling. »Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr«, ruft er zur Begrüßung, es klingt freudig, nicht ungeduldig. »Ich krieg euch heute zum ersten Mal mit.« Der bullige junge Mann mit Tarnfleckhose und rasiertem Schädel benötigt die Komplettausstattung. Er bekommt eine dicke, karierte Jacke, kauft für vier Euro eine Isomatte und einen Schlafsack und nimmt eine Tüte trockene Brötchen und einen Müllsack voll gebutterter Brezeln mit. »Euch dann noch ne gute Nacht«, ruft er zum Abschied und verschwindet bepackt in der diesigen Herbstnacht die Böschung zum Ufer hinunter.

Kurz darauf, in der Hamburger Innenstadt: Zwei ältere Männer mit zottigen grauen Haaren holen sich bei Sonja Kaffee und Kakao. Einer von ihnen berichtet, wie ein Bekannter früher am Tag in Handschellen abgeführt wurde, weil er randaliert hat. Dreimal ist die Polizei insgesamt gekommen, erzählt er, und scheint sich darüber zu freuen, dass überhaupt etwas passiert ist. Von seinem Tag erzählen zu können, scheint wichtiger für ihn zu sein als der heiße Kaffee.

Auf den engeren Straßen der Innenstadt hält das Team auch schon einmal für einzelne Menschen, die am Straßenrand auf sich aufmerksam machen. »Man muss n bisschen aufpassen an der Kirche«, sagt ein Mann um die Fünfzig, der sich ein Stück Kuchen auf ein Blatt Küchenrolle legen lässt. »Sicherheitsdienst?«, fragt Sven. Der Mann brummt zustimmend. Die schwere grüne Schiebetür fällt wieder zu, der Bus fährt weiter. »Schnack, schnack, schnack«, sagt Sonja fröhlich. Trotz ihres Mitgefühls für die Obdachlosen bemüht sie sich, Distanz zu deren Schicksalen zu halten. Sie kann ohnehin nicht allen helfen. Es gibt einfach zu viele von ihnen in Hamburg - rund 1000, sagt Bürgermeister Ole von Beust (CDU). Sonja ist überzeugt, dass es mehr sind.

Letzte Haltestelle: Halb zwölf, Gerhard-Hauptmann-Platz an der Mönckebergstraße, die von eleganten Geschäften gesäumt ist. Um diese Uhrzeit ist hier kaum mehr jemand elegant, die Luft, die durch die geöffnete Bustür wabert, riecht nach Alkohol. Sonja schenkt wieder Getränke aus. Nachdem alle eine heiße Tasse bekommen haben, bleiben einige Besucher noch stehen Die Stimmung wird gemütlich. Eine Frau mit Rucksack vorn unter der Jacke, die damit aussieht, als sei sie schwanger, will von Sven wissen, ob er Gerüchte über sie gehört habe. Hat er nicht. In zwei Wochen, wenn er wieder eine Tour fährt, möchte sie noch einmal mit ihm darüber sprechen. Okay, sagt Sven und lächelt. »Florence will immer reden«, sagt er. Es klingt, als suche sie sich dafür häufiger einen vorgeschobenen Grund.

Reden will auch ein älterer Mann, der sich als Frank vorstellt und sich selbst »Bombenleger« nennt, vielleicht wegen seiner langen Haare und des Vollbarts. Er schlafe seit 15 Jahren auf der Straße, erzählt er ungefragt; niemand bringe ihn ins Pik As, das Obdachlosenasyl in der Nähe. Sein Freund Jens, der den kleinen Finger von der Papp-Kaffeetasse abspreizt und einen gewaltigen Bauch vor sich her schiebt, mischt sich ein: Sein Zimmergenosse im Pik As pisse in seine leeren Bierflaschen und lasse sie im Zimmer stehen, außerdem kotze er ständig. Dass er sich anschließend entschuldige, mache es nicht besser. Schön mögen diese Geschichten nicht sein, aber Frank und Jens erzählen sie offenbar gerne.

Viertel nach eins, zurück auf dem Parkplatz vor der evangelischen Kirche in der Ferdinandstraße. Feierabend. Der Bus duftet nicht mehr nach Pflaumenkuchen. Vor der Kirche liegen fünf Gestalten. Eine von ihnen setzt sich auf, ruft etwas, will offensichtlich ein Gespräch beginnen. »Gute Nacht, schlaft weiter«, ruft Sonja und geht rasch weiter, um die letzte U-Bahn dieser Nacht zu bekommen. Sie lächelt. »Schnack, schnack, schnack«, sagt sie.