Nicht nur was für Randgruppen

ExpertInnen befürchten, dass die HIV-Infektionsrate in Deutschland künftig wieder ansteigen wird Von Katrin Gildemeister

Eine Sängerin einer bekannten deutschen Popband ist HIV positiv. Als diese Nachricht vor einiger Zeit durch die Medien ging, zeigte sich deutlich, dass viele Menschen bei diesem Thema immer noch in Klischees denken. Denn die Öffentlichkeit reagierte verblüfft: Warum ausgerechnet eine Frau, eine bekannte Sängerin?

HIV und die Immunschwächekrankheit Aids wurden lange für ein rein afrikanisches Phänomen gehalten. Dann für eine Krankheit, die außerhalb Afrikas nur Schwule betrifft. Dieser Fall ruft ins Gedächtnis: Aids betrifft Menschen jeden Landes und jeden Alters, ob arm oder reich, homo- oder heterosexuell. Weltweit tragen mehr als dreißig Millionen Menschen den Erreger in sich. Zwar gibt es in Afrika und Osteuropa immer noch deutlich mehr mit dem HI-Virus infizierte Menschen als in Westeuropa. Aber auch in Deutschland stecken sich jedes Jahr mehrere tausend Menschen mit HIV an.

Obwohl die Infektionsrate seit einigen Jahren recht stabil ist, befürchten ExpertInnen, dass sie künftig wieder steigt. Im vergangenen Jahr infizierten sich in Deutschland nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) rund 2600 Männer und 350 Frauen mit dem Virus. Bundesweit lebten Ende vergangenen Jahres etwa 63500 Menschen mit HIV oder Aids. Jörg Litwinschuh, Mitarbeiter der Deutschen Aids-Hilfe, hat beobachtet, dass der Respekt vor dem Virus schwindet. »Das Bewusstsein für die Gefährlichkeit von Aids nimmt wieder ab«, sagt er. Damit sinkt auch die Hemmschwelle für Sex ohne Kondom. Die Akzeptanz von Kondomen scheint ohnehin rückläufig zu sein: Europaweit stecken sich seit einigen Jahren immer mehr Menschen mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis oder Tripper an.

ExpertInnen bemängeln auch, dass die Aufklärung über HIV und Aids seit der Aufklärungswelle in den Neunzigerjahren abgenommen hat. Dadurch, dass vor allem Jugendliche immer weniger über das Virus wissen und es oft für ein Randgruppenphänomen halten, setzen sie sich teilweise unwissentlich der Ansteckungsgefahr aus. Unter den 13- bis 16-Jährigen glaubt gar jeder Fünfte, HIV-Positive am Äußeren erkennen zu können. »Man muss zielgruppenspezifisch auf die Menschen zugehen und dabei jede Altersgruppe berücksichtigen«, sagt Litwinschuh. Denn das Virus verbreitet sich in allen Altersgruppen. Am höchsten ist die Ansteckungsrate der RKI-Studie zufolge bei den 30- bis 39-Jährigen. Auch bei den 20- bis 30-Jährigen ist die Tendenz steigend.

Studierende machen mutmaßlich nur einen kleinen Teil der Infizierten aus. »Es gibt definitiv einen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bildungsniveau und der Infizierungsrate«, sagt Litwinschuh. »Das liegt auch daran, dass bei weniger gebildeten Menschen das allgemeine Gesundheitsbewusstsein nicht so stark ausgeprägt ist.« Bildung hilft aber nicht generell weiter. »Es gibt Situationen, in denen sich der Verstand einfach ausschaltet und sich der Mensch von seinen Gefühlen leiten lässt«, sagt Litwinschuh. »Und das kann jedem passieren.«