Befreier oder Besatzer?

Im estnischen Tallinn gibt es blutige Auseinandersetzungen um den Abbau eines sowjetischen Kriegerdenkmals. Von Elke Hofmann

»Kaufen Sie keine estnischen Waren«, forderte Russlands erster Vizepremier Sergej Iwanow Anfang April die russische Bevölkerung auf. Damit reagierte er auf die Ankündigung des estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip, ein sowjetisches Kriegerdenkmal aus der Innenstadt von Estlands Hauptstadt Tallinn zu entfernen. Iwanows Boykottaufruf war ein Vorbote für die Schärfe, die der Konflikt um den Abbau bekommen sollte. DemonstrantInnen der russischen Minderheit in Estland lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, als Ende April klar wurde, dass das Denkmal tatsächlich ab- und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden würde. Die schwersten Unruhen seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 forderten mehr als 150 Verletzte und ein Todesopfer. Nun steht das Denkmal nicht mehr in Tallinns Innenstadt, sondern etwas außerhalb auf einem Soldatenfriedhof.

Die etwa zwei Meter hohe Figur aus Bronze stellt einen sowjetischen Soldaten dar und wurde 1947 zu Ehren der sowjetischen Armee errichtet. »Aljoscha«, wie er von den Einheimischen genannt wird, trägt die Uniform der Roten Armee. Damit ist er für die russische Minderheit, die etwa ein Drittel der Bevölkerung Estlands ausmacht und gegen Diskriminierungen kämpfen muss, das Symbol für die Befreiung Estlands von der nationalsozialistischen Besatzung. Immer wieder hatte sie den Verbleib des Denkmals in der Innenstadt Tallins gefordert. Auch die jüdische Gemeinde Estlands sprach sich bereits im Mai 2006 für seine Beibehaltung aus. Für viele EstInnen hingegen ist die Figur eine Provokation. »Die Rote Armee symbolisiert für die meisten Esten nicht die Befreier, sondern Besatzer«, erklärt Politologe Andres Kasekamp, der an der Universität Tartu lehrt. Die Wurzeln dieser konträren Geschichtsauffassungen von RussInnen und EstInnen reichen zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ab 1940 war Estland von der Sowjetunion besetzt, wurde ein Jahr später von den NationalsozialistInnen okkupiert und 1944 von der Sowjetunion zurückerobert. Die EstInnen begrüßten die Deutschen zunächst als Befreier. Viele EstInnen traten freiwillig den Kampfverbänden der Waffen-SS bei. Dass sie während der deutschen Besatzung eine große Bereitschaft zur Kollaboration mit den NationalsozialistInnen zeigten, belegt zum Beispiel die 2006 veröffentlichte Studie der Historikerin Ruth Bettina Birn. Sie zeigt, dass die estnische Sicherheitspolizei während der deutschen Besatzung eigenständig Jüdinnen und Juden und KommunistInnen verfolgte. Etwa 1000 estnische Jüdinnen und Juden, die während der deutschen Besatzung im Land geblieben waren, wurden bis Ende 1942 ermordet.

»Natürlich steht hinter dem Bedürfnis Einiger, sowjetische Denkmäler zu schleifen, eine bestimmte Geschichte, nämlich die, dass die baltischen Staaten 1940 völkerrechtswidrig von der Sowjetunion geschluckt und 1944/1945 erneut okkupiert wurden«, erklärt die Osteuropa-Expertin Eva-Clarita Onken. Die in Berlin geborene Politologin lehrt an der Universität Tartu Politikwissenschaft. Mehrere zehntausend EstInnen seien unter sowjetischer Herrschaft nach Sibirien deportiert worden, so Onken. Dazu erklärt Kasekamp: »Für Russland ist die Rolle als Sieger über den Faschismus, als Sieger im Zweiten Weltkrieg, einer der wenigen feststehenden Punkte in seiner Identität. Und deswegen mögen die Russen die Tatsache nicht, dass die Esten ihr Geschichtskonzept in Frage stellen.«

Die konträren Geschichtskonzepte, die RussInnen und EstInnen heute haben, sind die Basis für das unterschiedliche Verständnis der eigenen nationalen Identität und ihrer emotionsgeladenen Diskussion. »Gerade weil es eine Frage der Identität ist, ist es sehr schwierig, einen möglichen Kompromiss zwischen dem russischen und dem estnischen Geschichtsverständnis zu erreichen«, sagt Kasekamp. Onken befürchtet, dass die Entfernung der Statue für eine konstruktive Debatte über unterschiedliche Sichtweisen auf Estlands Geschichte eher hinderlich ist. »Den Soldaten zu entfernen bedeutet, dass wieder einmal die Gelegenheit vertan wird, einen echten Dialog über die Geschichte mit der russischen Bevölkerung anzufangen. Etwas, was dringend notwendig wäre.«