»Ein Denkmal anderer Art«

Die Lebensgeschichten ehemaliger ZwangsarbeiterInnen werden aufgezeichnet. Alexander von Plato vom Institut für Geschichte und Biographie in Lüdenscheid leitet das Projekt. Mit ihm sprach Dirk Eckert. Von Dirk Eckert

Herr von Plato, sehen Sie sich eigentlich als eine Art Steven Spielberg von Lüdenscheid?

Nein, Spielberg hat ja mit der Shoa Foundation andere Schwerpunkte und finanzielle Möglichkeiten.

Aber Spielberg und Ihr Lüdenscheider Institut für Geschichte und Biographie machen etwas Ähnliches: Zeitzeugeninterviews mit NS-Opfern.

Ja, aber bei Spielbergs Projekt ging es vor allem um jüdische Holocaust-Überlebende, bei uns um ehemalige Zwangsarbeiter, darunter allerdings auch jüdische Sklavenarbeiter. Wir wollen insgesamt 600 Interviews durchführen. Für europäische Verhältnisse ist das kein kleines Projekt.

Sie haben schon einige Interviews geführt. Was hat Sie besonders überrascht?

Die unglaubliche Breite an Erfahrungen ist das eigentlich Überraschende. Da ist der Pole, der auf einen Hof in Deutschland kommt und darüber fast froh ist, weil in dieser Gegend der Krieg noch nicht angekommen ist. Vergleichen Sie das mal mit einem jüdischen Jugendlichen von 17 Jahren, der in einer Schwefelfabrik arbeiten musste mit einer Lebenserwartung von drei Monaten, dann abhauen konnte, sich dem polnischen Untergrund anschloss und mit der russischen Armee einmarschierte. Dies sind zwei vollkommen unterschiedliche Beispiele dafür, wie schrecklich oder erstaunlicherweise gemäßigt sich Zwangsarbeit für die Menschen ausgewirkt hat.

Wie kommen Sie überhaupt an die Betroffenen?

Wir arbeiten mit 34 Gruppen in 27 Ländern zusammen, die auch die meisten Interviews machen. Diese Gruppen kommen auf sehr unterschiedliche Weise an die ehemaligen Zwangsarbeiter heran. Das reicht von Anfragen bei deren Interessenvertretungen bis hin zu Aufrufen in Zeitungen.

Warum kommt solch ein Projekt eigentlich erst sechzig Jahre nach Kriegsende in Gang?

Die historische Zunft untersucht in kleinen Teilen seit Ende der Siebzigerjahre die Geschichte der Opfer. Allerdings stießen diese Historiker damals auf Abwehr, als sie in die Betriebsarchive wollten. Erst nachdem Banken und Firmen in den Neunzigern auf den US-amerikanischen Markt wollten und befürchten mussten, dass sie dort mit Sammelklagen konfrontiert werden könnten, erst da wurde die Bereitschaft dieser Firmen größer, sich zu öffnen. Das hat dann auch zur Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« geführt. So sollten die Opfer entschädigt und Sammelklagen verhindert werden.

Und diese Stiftung finanziert auch Ihr Projekt?

Die Gelder der Stiftung sind ja eigentlich dafür vorgesehen, die Opfer zu entschädigen. Jetzt stellt sich aber heraus, dass viele schon verstorben oder nicht »anspruchsberechtigt« sind. Das Positive an dieser traurigen Geschichte ist nun, dass die Gelder auch für dieses Projekt ausgegeben werden können, was die Stiftung ohnehin vorhatte. Denn die verbliebenen Zwangsarbeiter werden dadurch auch als Opfer anerkannt. Eine wissenschaftliche Aufnahme ihrer Geschichte ist für sie von großer Bedeutung, nicht nur für uns Historiker. Es ist - sozusagen - ein Denkmal anderer Art.

Was meinen Sie damit?

Ein Denkmal nicht aus Stein und Beton, sondern aus ihren Erfahrungen und Erzählungen.

Steven Spielberg hat gesagt, er hoffe, mit seinem Projekt 48000 ehemalige Opfer zu Lehrern machen zu können. Verbinden Sie mit ihrem Projekt ebenfalls diese Hoffnung?

Berichte von Zeitzeugen sind viel anschaulicher als Akten. Insofern: Ja, auch wir hoffen, dass aus den ehemaligen Verfolgten Lehrer für die Zukunft werden.

Das Interview erschien zuerst in der taz nrw vom 3. Juni 2006 und wurde leicht gekürzt. Dirk Eckert ist Redakteur der taz nrw.