Gestohlene Blicke

Von Verena Risse

Ein Ehepaar vor dem Schaufenster einer Galerie; sie deutet auf ein Bild vor ihnen, kommentiert es, ihr Gesichtsausdruck zeugt von Interesse. Doch sein Blick wendet sich, von ihr unbemerkt, zur Seite, zur Wand des Schaufensters, dorthin, wo etwas versteckt die Abbildung eines weiblichen Rückenaktes hängt.

Kleine Alltagsszenen wie diese sind es, die Robert Doisneaus fotografisches Werk prägen; dass dabei manche der Szenen - das berühmteste Beispiel ist wohl der Kuss vor dem Rathaus - inszeniert sind, mindert ihre Ausstrahlungskraft dennoch nicht. Denn dem selbst ernannten »Bilderdieb« Doisneau ist es gelungen, Skurriles und Alltägliches, Ungewöhnliches und Typisches des menschlichen Alltags einzufangen. Viele seiner Bilder sind untrennbar verbunden mit Stadtansichten von Paris, in dessen Straßen der 1994 verstorbene Fotograf die meisten seiner Motive gefunden hat.

In Gestohlene Blicke beschreibt Doisneau die Entstehungsgeschichte unterschiedlicher, heute berühmter Bilder, schildert aber auch einige Situationen, die er leider nie hat einfangen können. Seine Sprache ist wie seine Fotografien, ein wenig ironisch, optimistisch und verträumt; er berichtet aus der Position des Betrachters am Rande, des Zuschauers, der einem spektakulären Ereignis beiwohnen darf, das eigentlich gar nicht für ihn bestimmt war.

Die LeserInnen erfahren in kurzen Kapiteln von Orten und Begegnungen, die Auslöser bekannter und unbekannter Werke Doisneaus gewesen sind. Er schildert Ausflüge in die Wohnungen Georges Braques oder Pablo Picassos, beschreibt kritisch die Fotografie als Handwerk und Beruf und begeistert sich immer wieder für die Schönheit all dessen, was das menschliche Auge selbst im Alltag beobachten darf, wenn es nur möchte.

Gestohlene Blicke sind ungewöhnliche Memoiren, weil sich der Autor selbst beinahe ganz heraushält. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die porträtierten Menschen, die abgelichteten Szenen und die besonderen Erfahrungen. LiebhaberInnen sei außerdem ein Bildband empfohlen, der sich ganz den Fotografien Robert Doisneaus widmet.

Robert Doisneau: Gestohlene Blicke - Erinnerungen eines Bilderdiebs, SchirmerGraf Verlag, München 2004, 18,80 Euro.