Der Abgrund

Von Hartmut Schwarz

Fernando kommt nach Jahren des Exils in Mexiko zurück nach Medellín, seiner kolumbianischen Geburtsstadt, weil er erfahren hat, dass sein jüngerer Bruder Darío, homosexuell wie er selbst, an AIDS erkrankt ist und zu sterben droht. Gemeinsam quartieren sich die beiden wieder in ihrem Elternhaus ein, und er übernimmt die Pflege seines immer schwächer werdenden Bruders. An langen Nachmittagen erinnern sie sich ihrer Jugend in einem - so scheint es - untergegangenen Land.

Fernando leidet an der Ungerechtigkeit, der Gewalt und Willkür, die Kolumbien fest in ihren Klauen halten, er verzweifelt an der Dummheit und Rücksichtslosigkeit seiner Mitmenschen. Der Ausdruck seiner Verzweiflung wechselt zwischen bitterem Sarkasmus und blankem Hass.

So nennt er zum Beispiel seine Mutter nie beim Namen, sondern immer nur »die Wahnsinnige« und wirft ihr und damit allen Frauen vor, ständig immer mehr Kinder in eine völlig verkommene Welt zu setzen. Hier persifliert der Autor den in der lateinamerikanischen Literatur gerne bemühten Topos der Großfamilie als Folie für die Entwicklung von Handlung und Botschaft.

Dieses Buch verdiente eher den Titel »Der Überfall«, denn das ist es, was der Autor auf seine LeserInnen verübt. Es ist ein wortgewaltiger Redeschwall, eine bittere Abrechnung mit Kolumbien und der menschlichen Verkommenheit, die die LeserInnen überfällt und in den emotionalen Strudel eines zutiefst verletzten Menschen hineinzieht. Aus dem Hass und der Abscheu spricht die enttäuschte Liebe Fernandos zu seiner Familie und seinem Land und die übermächtige Trauer, den endgültigen Verfall seines geliebten Bruders mit ansehen zu müssen.

Im Gegensatz zu Vallejos zuvor in Deutsch erschienenem Roman Die Madonna der Mörder, in dem der Held, ein alternder Schöngeist, mit seinem Geliebten, einem jungen Auftragsmörder, durch die Straßen Medellíns zieht und eine Blutspur hinterlässt, hat Fernando in Der Abgrund offensichtlich vor der Gewalt der Verhältnisse kapituliert und kann seine Enttäuschung nur noch herausschreien.

Dass sich diese Anklage nicht in einer platten Schimpfkanonade verliert, verdankt sie dem literarischen Furor, der Virtuosität der Sprache, die manchmal an Céline erinnert, und dem spöttischen Humor, der dem Entsetzen ein lautes Lachen entgegensetzt. Ein urkomisches und zugleich tieftrauriges Buch.

Fernando Vallejo: Der Abgrund, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2004, 19,80 Euro.