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Deutschland, das unbekannte Land. Drei weniger literarische als Literatur gewordene Reisen durch die Bundesrepublik auf der Suche nach einer deutschen Wirklichkeit Von Verena Risse

Wie nähert man sich Deutschland, wenn man ihm näher eigentlich gar nicht mehr kommen kann, weil man dort lebt? Wo ist Deutschland, wenn es zugleich überall und nirgendwo zu sein scheint? Und was für einen Charakter hat das Land in Wirklichkeit? Sicherlich lassen sich Einwohnerzahl, Bruttosozialprodukt und Hoheitsgebiet feststellen, wie aber erfasst man Deutschland als Ganzes?

Ein literarisches Genre hat sich dieser Fragen angenommen, das in Heinrich Heines Wintermärchen eine Art Anfang fand: Das Genre der »Deutschlanddurchreiseromane«, bei denen AutorInnen der Bundesrepublik durch Reisen innerhalb ihrer Landesgrenzen näher zu kommen versuchen. Im Folgenden sollen drei Werke jüngeren Datums vorgestellt und verglichen werden: Faserland von Christian Kracht, Deutschland umsonst von Michael Holzach sowie Roger Willemsens Deutschlandreise.

In Faserland reist ein namenloser Ich-Erzähler von Nord nach Süd durch die Republik. Zwischen Sylt und Bodensee macht er Halt in Hamburg, Frankfurt, Heidelberg und München, wobei all diese Städte letztlich austauschbar und charakterlos bleiben. Trifft er doch überall auf dieselben Leute, mit denen er auf identischen Partys zu immer gleicher Musik unter ständigem Einfluss der gerade angesagten Alkoholika und Drogen eine innere Leere zu füllen versucht. Und ebenso austauschbar, weil anonym, sind auch die Hotels, Bars, Bordtreffs und Taxis, die wie Meilensteine den Weg des Erzählers säumen.

Christian Kracht, der 1966 in der Schweiz geboren wurde und im Ausland aufgewachsen ist, gelang mit Faserland weniger das Porträt eines Landes als das einer Generation. Einer, die in ihrer finanziellen Sorglosigkeit nicht mehr entwickeln konnte als Statussymbole, und deren Indifferenz und Oberflächlichkeit sich in Pauschalurteilen sowie in der erregten Diskussion von Belanglosigkeiten spiegeln. Und auch der Valium-Tod eines Salemer Schulfreundes vermag den Erzähler letztlich nicht aus seiner Gleichgültigkeit zu reißen.

Das Deutschland, das der heute in Hamburg lebende Autor skizziert, ist nicht mehr als ein unauffälliges Hintergrundbild, welches sich mit Leichtigkeit ignorieren lässt. Die Größe des Landes schwindet hinter der Kapazität moderner Verkehrsmittel und seine Kultur, Tradition und Vielfalt weichen einem spaßgesellschaftlichen, kapitalistischen Mainstream.

Ganz anders wirken dagegen die Schilderungen Michael Holzachs in seinem Bericht Deutschland umsonst. »Zu Fuß und ohne Geld«, so beschreibt es der Untertitel, durchquert er Anfang der Achtzigerjahre das deutsche »Wohlstandsland« und begibt sich dabei bewusst in die Abhängigkeit von Zufall und Glück sowie der Hilfe Anderer.

Michael Holzach bricht in Hamburg auf, durchquert das Ruhrgebiet, kommt über Lindau nach München, bevor er der innerdeutschen Grenze zurück nach Norden folgt. Sein einziger Begleiter auf dieser rund 2500 Kilometer langen Wanderung ist der Boxermischling Feldmann.

Holzach schläft unter freiem Himmel, bettelt, nimmt Hilfsarbeiten an, bittet um Asyl und verbringt Nächte mit Nichtsesshaften und in Notunterkünften. Bestechend in ihrer Echtheit und Einzigartigkeit sind seine Erlebnisse in einem Dortmunder Entziehungsheim, im Kloster Marienstatt, als schlechtbezahlte Aushilfskraft an einem Kirmesschießstand in Heilbronn und in der Hildesheimer Bahnhofsmission. Die wohl glücklichsten Augenblicke verbringt er in seiner alten Internatsschule in Holzminden, die er auf dem Hin- und Rückweg besucht, sowie auf der Didleralm nahe der österreichischen Grenze, wo er inmitten einer bayerischen, sommerlichen Postkartenidylle als Senner mitarbeiten darf.

Der von dem 1983 tödlich verunglückten Zeit-Reporter anfänglich selbst erhobene Anspruch auf Authentizität seiner Mittellosigkeit sowie die Intensität der möglichen Entbehrungen lassen ihn auch nach spätherbstlichem Kälteeinbruch weiterlaufen. Seine Schilderungen dieser letzten Wochen jedoch können Spuren von Einsamkeit und Betroffenheit nicht mehr verbergen.

Michael Holzach hat bewiesen, dass ein Überleben in Deutschland ohne Geld möglich ist; dass man sich aber auf die Hilfe und Großzügigkeit der Menschen nicht immer verlassen kann. So muss selbst er bisweilen auf die Essensgutscheine des Sozialamts zurückgreifen. Holzach hat sich auf seiner Wanderung Zeit genommen für die Menschen, für Details der Begegnungen und regionaler Unterschiede und seine sehr persönlichen Erfahrungen in Deutschland umsonst niedergeschrieben. Dieser mittlerweile zum Kultbuch avancierte Bericht ist die bewegende Schilderung einer Abenteuerreise in einem scheinbar abenteuerlosen Land; er ist eine subjektive Sozialstudie und nicht zuletzt auch ein Ausschnitt einer Autobiografie. »Umsonst« war die Reise nicht. Nicht vergeblich oder sinnlos, aber ebenso wenig frei von Entbehrungen und persönlichen Opfern.

Roger Willemsen schließlich macht sich in Deutschlandreise bewusst auf, um die Bundesrepublik und ihren Alltag zu beschreiben. »Ich sitze im Zug und fahre weit weg. Nach Deutschland. Oder besser zu den so genannten ›Menschen draußen im Lande‹«, schreibt er dann auch zu Beginn des Buches.

Kreuz und quer fährt der Journalist durch das Land und skizziert einen deutschen Alltag, wie ihn beinahe jeder in seiner individuellen Heimat so oder ähnlich erlebt und (er)kennt. Beleuchtet wird das Spießige, das Kleinbürgerliche, das Peinliche. So berichtet Willemsen unter anderem von einer Bonner Abiturfeier, fängt die Tristesse ostdeutscher Straßenzüge ein oder beschreibt Wartende an einer Bushaltestelle im Bayerischen Wald. Aus den Erlebnissen an einigen Orten seiner Reise macht Willemsen kleine Erzählungen, anderen Orten wiederum widmet er sich lediglich mit einer Anekdote, die knapp eine Buchseite füllt.

Deutschlandreise besteht aus vielen kleinen Aufzeichnungen eines genau Wahrnehmenden. Individuell werden manche der beschriebenen Szenen Wiedererkennungswert haben, manch andere wiederum erscheinen wie Einblicke in eine unbekannte Welt. Roger Willemsen beschreibt mit einer schonungslosen, teilweise arroganten Direktheit, die sich aus seiner Position als vorübergehender Beobachter ergibt. Er scheint sich sicher zu fühlen in der Rolle desjenigen, der urteilen, bewerten und spotten kann, weil er mit dem besuchten Ort nicht emotional verbunden ist. Dennoch ist Deutschlandreise das wohl objektivste und journalistischste der drei Werke.

Wenngleich alle drei Bücher einen Weg durch Deutschland beschreiben, so sind die Eindrücke wie auch die Weise der Schilderungen sehr unterschiedlich. Jedes Werk beantwortet auf seine Art die eingangs gestellten Fragen nach Charakter, Lage und Identität des Landes. Es gelingt ihnen allen, Eigenheiten zu entdecken und zu beschreiben, Typisches aber ebenso individuell Einzigartiges, Außergewöhnliches oder Skurriles aufzufinden. Eine endgültige Antwort auf die Frage nach dem tatsächlichen deutschen Land findet sich verständlicherweise nicht. Offensichtlich wird jedoch, dass die Bundesrepublik vielmehr das zu sein scheint, was jeder für sich selbst damit verbindet: die ureigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken.

Michael Holzach, Deutschland umsonst, Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, 9,95 Euro. Christian Kracht, Faserland, DTV, München 2002, 8 Euro. Roger Willemsen, Deutschlandreise, Eichborn Verlag, Frankfurt 2003, 17,00 Euro.