Erleichterung verweigert

Warum zeichnen sich die Veröffentlichungen im deutschen Blätterwald über die diesjährige Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek vor allem durch Distanz aus, die zeitweise ins Hämische überschnappt? Der Preis nötigt den Jungs in den Redaktionen Respekt ab, die Arbeit der Schriftstellerin tut es jedoch nicht. Warum nicht? Von Agnes Hammer

Menschen kommen auf zwei Arten zu Erkenntnissen. Sätze wie »Eins und eins gibt zwei«, oder »Wenn ich heute Geld ausgebe, habe ich morgen keins mehr« gelten immer. Heute, morgen und für alle. Es sind Wahrheiten, die jeder teilt, und ungefähr das, was Kant »Verstand« nennt. Auf andere Fragen wie »Warum müssen wir sterben?«, »Wie soll ich handeln?« oder »Liebe ich diesen Menschen?« gibt es keine einfachen Antworten. Wahrheiten, die ich heute noch für wahr halte, müssen es bei diesen Fragen morgen nicht mehr sein. Dieses Denken nennt Kant »Vernunft«.

Hier setzt die Literatur ein. Sie antwortet nicht mit Ja oder Nein, stellt aber die gleichen wichtigen Fragen nach Tod, Sex und Maximen und antwortet in einer Erzählung. Das kommt unserem Fragen entgegen. Der Mensch sehnt sich nach Sinn in seinem Leben, seinem Schmerz, seinem Handeln.

Bei Elfreide Jelinek jedoch gibt es keine Antworten. Die Welt ist sinnlos, zerstört wie das Land in Oh Wildnis, oh Flucht vor ihr, von Macht zerfressen, Zuneigung zwischen Menschen gibt es nicht, nur Sinnlosigkeit, Sehnsucht und Gier. Dafür treten andere Sinn-Ebenen in den Vordergrund. Die »Stimmen und Gegenstimmen« der Jelinek, die in der Begründung des Nobelpreiskomitees genannt werden, sind überbordend an Sinn und Verweisen auf andere Texte.

In Die Ausgesperrten schildert sie den Versuch des Geschwisterpaares Anna und Hans, sich die Philosophie des Existentialismus anzueignen, um ihrer kleinbürgerlichen Herkunft zu entfliehen. Sie nimmt aber auch die Schlagwörter von Heidegger und Sartre in den Text auf, um damit zu spielen: »Dafür hab ich jetzt den ganzen Sartre gelesen, das ganze Sein und das ganze Nichts, schießt es ihr durch den Kopf, während sie aus der Unterhose steigt.«

In diesem Satz wird die ganze Zukunft von Anna zusammengefasst, denn ihr Bruder wird sie später mit einem Kopfschuss umbringen. Annas Ringen mit der Philosophie Sartres ist sinnlos. Wahrnehmbar ist sie sexuell, wenn sie »aus der Unterhose« steigt. Der Satz-Sinn innerhalb des Romans wird ein anderer, von Sartre so nicht gemeinter. Stimme und Kontrapunkt.

Darüber hinaus macht Jelinek in ihrem Drang zu Zitat und Verzerrung keinen Unterschied zwischen Hochkultur, Bravo und Merksprüchen der Nazis (»Nachdem der Vater von Hans durch die Arbeit frei gemacht worden war, starb er sehr schnell«). In ihren Sätzen ist eine Über- und gleichzeitige Unterspülung von Sinn, ein textliches Zuviel und Zuwenig.

Jelinek vertreibt mit ihren Zitatzerstückelungen in ihren Variationen jegliches Pathos. Sie bedient sich gebrauchter Wörter, deren Pathos schon abgenutzt ist. Daran liegt ihr. Durch ihre Verweigerung von Erzähl-Sinn und Pathos bildet sich Ekel, Entsetzen, Ausweglosigkeit. Sie zielt durch den Verstand und die Vernunft des Lesenden hindurch und schafft damit etwas ganz Neues und Originäres. Ihre Texte halten sich nicht damit auf, »Literatur«, »Roman« oder »Erzählung« zu sein, auch wenn es auf den Buchdeckeln steht.

Während in Die Ausgesperrten, Die Klavierspielerin oder Lust eine zeitliche Aufeinanderfolge der Ereignisse vorliegt, wendet sich die Jelinek in Die Kinder der Toten wieder einer experimentellen Dynamik der Zeit zu, wie sie es in ihrem frühen wir sind lockvögel baby bereits vorgeführt hat.

Die Kinder der Toten handelt in einem weiteren Sinn von Über-Sinnlichem. Die ProtagonistInnen sind bereits tot, trotzdem wohnen sie in einer Pension in den Voralpen. Sie sind Geister mit gedanklichen und gefühlten Fetzen. Jede Zeitfolge bleibt unerkennbar, allein der Sog, der vom Textrhythmus und den hier neu verwobenen Fragmenten ausgeht, lässt weiter lesen.

Dieses Epos über Österreich beginnt Jelinek mit einem Bibelwort (»Das Land braucht oben viel Platz, damit seine seligen Geister über den Wassern ordentlich schweben können«), um nach einem wirklich unheimlichen Totentanz mit dem lapidaren Satz zu enden, »die holländischen Reisegäste konnten inzwischen in einem Ersatzfahrzeug sicher die Heimreise antreten«. Dazwischen: Katastrophen, Menschen, hineingewürfelt in Schluchten, Gudrun, die sich bereits vor fünf Jahren das Leben nahm, ein Schloss der Habsburger und die Pension Alpenrose, die lokale Konstante. Hier wird die Übersinnlichkeit, Übersinnigkeit und Sinnlosigkeit nicht innerhalb einer Erzählung entwickelt, sondern gilt von Anfang an.

Jelinek verweigert der Vernunft eine Antwort, sie verweigert ein wohliges Gefühl, wenn die letzte Seite gelesen ist. Sie verweigert jede Erleichterung. Das soll ihr erst mal jemand nachmachen.

Agnes Hammer arbeitet als Lehrerin in Düsseldorf.