Unkritisches Gedenken

Im Kommunismus wurde er totgeschwiegen, heute wird in Festansprachen an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnert. Kontroversen werden unter Gedenkschleifen und blumigen Reden versteckt. Von Beate Schulz

Vom 1. August bis 2. Oktober 1944 leisteten die WarschauerInnen unter dem Kommando der polnischen Heimatarmee den deutschen BesatzerInnen im Warschauer Aufstand erbitterten Widerstand. 2004 dauerten die Gedenkfeiern zum sechzigsten Jahrestag des Warschauer Aufstands drei Tage: Von Patriotismus, Opfermut und Versöhnung war die Rede und auch davon, dass Geschichte nicht um- oder fehlgedeutet werden dürfe. Es gab jedoch - wie bei solchen Veranstaltungen üblich - keine öffentliche Aufarbeitung über die Kontroversen des Aufstands, der für viele Polen Mythos und Trauma zugleich ist. Und auch die Hintergründe des Warschauer Aufstandes sind bis heute nicht endgültig beleuchtet.

Zum Zeitpunkt des Aufstands war Warschau seit fast fünf Jahren von den Deutschen besetzt, die nach der Niederlage von Stalingrad zwar schon auf dem Rückzug, aber immer noch handlungsfähig waren. Bereits seit 1940 hatten die polnischen Untergrundgruppen, die 1942 auf Befehl der national-konservativen polnischen Exilregierung in London in der Heimatarmee zusammengefasst wurden, weit verzweigte Widerstandsstrukturen aufgebaut. Neben zivilen Einrichtungen wie etwa dem geheimen Unterricht, der die von den NationalsozialistInnen verwehrte höhere Schulbildung ersetzte, existierte in Polen ein militärisches Netzwerk mit zirka 400000 Mitgliedern, die Guerilla-Attacken und Sabotageaktionen durchführten. Ende Juli 1944 schien die Situation für einen Aufstand günstig zu sein, da die westlichen Alliierten an der Westfront durchbrachen und die Rote Armee an der Weichsel stand. Zudem hoffte man, dass die Westmächte die Erhebung unterstützen würden.

Der Aufstand wurde jedoch trotz der scheinbar günstigen Voraussetzungen zur Tragödie. Die Aufständischen wurden unter anderem von der berüchtigten Dirlewanger-Einheit der SS niedergemacht. Nach 63 Tagen waren etwa 18000 Aufständische und 180000 ZivilistInnen ums Leben gekommen, 100000 WarschauerInnen wurden von den deutschen BesatzerInnen als ZwangsarbeiterInnen nach Deutschland deportiert. Um ein Exempel zu statuieren, wurde Warschau dem Erdboden gleich gemacht; zirka 95 Prozent der Bausubstanz wurden zerstört.

Ein Großteil der Schuld für das Scheitern des Aufstands wird häufig Stalin angelastet. In den letzten Septembertagen hatte die Rote Armee, ohne deren Unterstützung der Aufstand nicht zu gewinnen war, Außenbezirke Warschaus eingenommen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation für die in der Altstadt Eingekesselten bereits aussichtslos. Stalin hielt die Rote Armee in Wartestellung und verurteilte den Aufstand als militärisches Abenteuer. Zudem verwehrte er den West-Alliierten lange Zeit die Nutzung sowjetischer Flugplätze für Hilfslieferungen und machte somit eine Unterstützung auch von dieser Seite unmöglich.

Grund dafür ist in den Augen vieler HistorikerInnen politisches Kalkül von Seiten Stalins. Am 22. Juli hatte sich in Chelm das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung, auch Lubliner Komitee genannt, gebildet. Bei diesem handelte es sich um eine von der UdSSR bereits am 27. Juli als Regierung anerkannte Marionette, die mit dem Aufbau eines kommunistischen Staates begann. Hingegen war die Londoner Exilregierung strikt antikommunistisch eingestellt und wollte mit der Rebellion auch eine starke Verhandlungsposition gegenüber Stalin erreichen, da sie nach einem erfolgreichen Aufstand die Rote Armee sozusagen als Herren im eigenen Haus hätte begrüßen können.

An einem selbstbewussten Polen, das auf einen erfolgreichen Befreiungsschlag verweisen konnte, waren anscheinend aber auch der britische Premierminister Churchill und der US-amerikanische Präsident Roosevelt nicht interessiert. Die USA und Großbritannien benötigten Stalin noch als Kriegsverbündeten gegen Deutschland. Zudem hatte man sich bereits darüber verständigt, dass Polen zur sowjetischen Einflusssphäre gehören und Stalin die 1939 in Ostpolen annektierten Gebiete behalten würde. Die stockenden Hilfslieferungen für die Aufständischen lassen sich daher nicht nur mit der mangelnden sowjetischen Unterstützung erklären, sondern auch mit dem Unmut der westlichen Alliierten über die Londoner Exilregierung. Diese hatte sich geweigert, die für die Nachkriegszeit geplante Verschiebung der Grenzen Polens nach Westen zu akzeptieren.

Vor diesen politischen Hintergründen gab es auch in der Heimatarmee Unstimmigkeiten darüber, ob ein Aufstand überhaupt Sinn mache. Ein militärisches Handeln, so argumentierten einige Mitglieder der Heimatarmee, würde zu hohen Verlusten in der Zivilbevölkerung, aber auch in den eigenen Reihen führen. Nach Kriegsende wäre daher die Heimatarmee eventuell nicht mehr in der Lage, gegen Stalin und die KommunistInnen zu opponieren.

Auch die heute vielfach stark verehrte Heimatarmee ist nicht unumstritten. Sie vereinigte unter ihrem Kommando rund einhundert Untergrundorganisationen, unter denen die politischen Vorkriegsstreitigkeiten weiterschwelten. Der Heimatarmee gehörten sowohl MitbegründerInnen des Polnischen Hilfsrats der Juden als auch Mitglieder der Nationalen Streitkräfte (NSZ) an, die das extrem rechte politische Spektrum Polens repräsentierten. Während an den Hilfsrat, der Teil der weitverzweigten Untergrundorganisation war, heute in der Gedenkstätte Yad Vashem ein Baum in der Allee der Gerechten erinnert, gilt die NSZ als stark chauvinistisch und antisemitisch. So wird die NSZ heute verdächtigt, hunderte Juden und Jüdinnen ermordet zu haben. Zwiespältig ist zudem die Rolle der gesamten Heimatarmee beim Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Einerseits versorgte sie die Aufständischen mit Material und Waffen, war aber andererseits nicht bereit, ihre Strukturen zu riskieren und offen militärisch einzugreifen.

Nachdem die Sowjetarmee auch den westlichen Teil Polens besetzt hatte, beschloss die Londoner Exilregierung am 19. Januar 1945 die Auflösung der Heimatarmee. Viele ihrer nach Kriegsende aus den Konzentrationslagern wiederkehrenden KämpferInnen wurden von den KommunistInnen festgenommen und interniert. Die Aufständischen wurden zu VolksfeindInnen und KollaborateurInnen der NationalsozialistInnen erklärt. Bis 1989 wurde der Aufstand in Polen offiziell totgeschwiegen. Seitdem wurden zahlreiche Denkmäler errichtet und ein Gedenkmuseum eröffnet.

Eine unkritische Verehrung ist aber genauso unsinnig und wird den WarschauerInnen, die im Widerstand gegen den Faschismus kämpften, ebenso wenig gerecht wie das Stillschweigen unter dem kommunistischen Regime. Solange wichtige Informationen in britischen und russischen Archiven nach wie vor nicht zugänglich sind, ist eine vollständige Betrachtung der Hintergründe des Aufstands nicht möglich. Trotzdem sollten die Kontroversen und Zwiespältigkeiten auf allen Seiten wesentlicher Bestandteil des Erinnerns sein.