Wahnsinn und Familiensinn

Spider: Ängste eines psychisch kranken Mannes in Bild und Wort gefasst. Von Julia Kirchner

Dennis Cleg ist offensichtlich anders. Oder zumindest geht es ihm nicht gut, als er beinahe als Letzter einem Zug entsteigt und mit schlurfendem Schritt den Bahnsteig entlang geht. Er wirkt zerstreut und unsicher, bewegt sich langsam. Er schleppt sich durch das triste, trostlos und ärmlich aussehende London in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Irgendwann erreicht er sein Ziel: Ein graues Reihenhaus, das aussieht wie der Teil der Stadt, den Cleg durchwandert hat. Es hat einen auffälligen, rot angestrichenen Türrahmen. Gut möglich, dass der Zuschauer hier eine symbolische Aussage zu verstehen hat. Ist dies ein guter, bunter Ort? Oder ganz im Gegenteil einer, der Gefahren birgt?

Der Protagonist betritt das Haus, nachdem ihm eine Frau mittleren Alters öffnet, und befindet sich in Räumlichkeiten, die in ihrer Ausstrahlung und Atmosphäre ganz den ersten paar Minuten und im Übrigen dem Rest des Films entsprechen. Außer ihm und der Frau halten sich dort noch weitere Menschen auf. Sie sitzen in einem Gemeinschaftsraum. Einer, der Cleg anspricht, gibt merkwürdiges Zeug von sich. Dann bekommt Cleg sein Zimmer zugewiesen.

Langsam ahnt man, was die möglichen Hintergründe der Geschichte sind. Cleg ist vermutlich aufgrund einer Krankheit aus einem Krankenhaus, einer Psychiatrie oder einer ähnlichen Einrichtung entlassen worden und befindet sich nun in einem Wohnheim für psychisch Kranke. Doch der Zuschauer erfährt nichts Genaues über alles bisher Gesehene. Die Art der Krankheit entzieht sich dem psychiatrisch Ungeschulten. Im Folgenden erlebt man Cleg, von seiner Mutter »Spider« genannt, als neurotischen, ketterauchenden Mann mit Wahnvorstellungen und einer schwierigen Vergangenheit. In seinem neuen Zuhause angekommen, durchlebt er Teile seiner Kindheit oder vielleicht auch nur seiner eingebildeten Kindheit. Mehr lässt sich über ihn nicht mit Gewissheit sagen, da der Hauptteil des Films aus der filmischen Umsetzung von Spiders krankem Gedächtnis und seiner Vorstellungswelt besteht. Kaum eine Szene lässt sich auf biographische Fakten oder auf Einbildung hin überprüfen. War sein Vater wirklich so ein gefühlskalter, unzufriedener Mann? Hat er wirklich Spiders Mutter ermordet oder hat sie »bloß« Sohn und Ehemann verlassen, was durch die Krankheit dazu geführt haben könnte, dass sich das Kind zeitlebens einen eigenen Reim auf die Realität gemacht hat? Nur der Wahn in Spiders Geist wird letztendlich deutlich, wenn sich zum Beispiel die geliebte Mutter in die verhasste Geliebte des Vaters verwandelt oder er mit Hammer und Schraubenzieher nachts über das Bett der Heimbetreuerin gebeugt steht. Regisseur David Cronenberg hat es meisterhaft geschafft, die Gefühlswelt eines Verrückten in einem Film zu entfalten.

Zusammen mit der Romanvorlage und dem Drehbuch von Patrick McGrath sowie der guten schauspielerischen Leistung von Ralph Fiennes ergibt sich eine glaubwürdige und eindrucksvolle Inszenierung eines Leidens, das weltweit vielen Millionen von Menschen das Leben schwer macht. Es ist kein Film, der sich an der Andersartigkeit eines Menschen ergötzt und daraus eine Sensation macht. Er macht sie eher nachvollziehbar und lädt ohne unnötige Action- und Gewaltelemente dazu ein, das Erleben eines psychisch Kranken im wahrsten Sinne des Wortes kennen zu lernen. Darüber hinaus zeigt er einen typischen Verlauf des Schicksals solcher Menschen. Dieses enorme Einfühlungsvermögen sprach auch schon aus Crash, einem früheren Film Cronenbergs. Auch darin wurden ausgefallene sexuelle Vorlieben und deren Praktiken eindringlich und glaubwürdig dargestellt.

Spider, Frankreich/Kanada/Großbritannien 2002, Regie: David Cronenberg, Hauptdarsteller: Ralph Fiennes. Bereits angelaufen.