Glanz und Elend der Grundschule

Nach PISA kommt IGLU. Die Studie zur Lesekompetenz von GrundschülerInnen stellt Deutschland gute Noten aus. Aber ab der fünften Klasse geht es bergab. Eine Folge des dreigliedrigen Schulsystems. Von Larissa Pfeiffer-Rüssmann

Als die PISA-Untersuchung dem deutschen Schulsystem denkbar schlechte Ergebnisse bescherte, war in der öffentlichen Diskussion vor allem von notwendigen Verbesserungen im Kindergarten- und Grundschulbereich die Rede, obwohl PISA die Kompetenzen der 15-Jährigen untersuchte. Deutschkurse für Vorschulkinder wurden gefordert und in den Grundschulen statt »Kuschelpädagogik« eine gezielte, leistungsorientierte Vorbereitung auf die weiterführenden Schulen angemahnt. Erstaunlich eigentlich, ging es doch um die mangelhaften Leistungen der 15-Jährigen, und die sitzen nun mal in der Sekundarstufe. Die positiven Aspekte der reformpädagogischen Arbeit in den Grundschulen wurden mehr belächelt als ernst genommen.

In der Internationalen Grundschulleseuntersuchung (IGLU) liegen nun die ViertklässlerInnen an deutschen Grundschulen im internationalen Vergleich im oberen Drittel. Bei dieser Untersuchung, an der sich weltweit 35 Länder beteiligt haben, nimmt Deutschland den 11. Platz ein. Allerdings fehlen einige Länder der PISA-Spitzengruppe wie Finnland, Australien und Korea, aber auch Leistungsschwache wie Luxemburg, Polen und Portugal. Die Lesekompetenz wurde in vier Kompetenzstufen eingeteilt, sie reicht von Kompetenzstufe I als der niedrigsten bis zu Kompetenzstufe IV mit dem höchsten Leseniveau. Erweitert wurde die Untersuchung in Deutschland u.a. um Mathematik und Naturwissenschaften.

Die Grundschulen schneiden bei IGLU gut ab. Die Leistungsfähigkeit der Zehnjährigen ist in allen untersuchten Bereichen besser als die der 15-Jährigen bei PISA. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migrationsstatus und Leistung ist nicht so ausgeprägt wie bei PISA. Dieses Ergebnis wird - ob gewollt oder nicht - die Diskussion über das unsoziale deutsche Schulsystem neu entfachen. Gerade in der Grundschule, in der noch alle Kinder unabhängig von sozialer Herkunft und Bildungsstand der Eltern gemeinsam lernen, zeigt sich, dass sich ohne Aussonderung gute Lernergebnisse erzielen lassen, während in den weiterführenden Schulen Bildungschancen verbaut werden.

Im Grundschulbereich der BRD erreichen 18,1 Prozent der SchülerInnen die höchste Kompetenzstufe IV (bei PISA waren es zehn Prozent) mit der Fähigkeit, mehrere Textpassagen sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. 61,1 Prozent erreichen mit der dritten von vier Kompetenzstufen ein Leseniveau, das die Basis für selbstständiges Weiterlernen schafft. Hier liegen Schweden und die Niederlande bei über siebzig Prozent. Der Anteil echter Risikokinder ist zwar mit zehn Prozent gering (bei PISA 23 Prozent), doch erreicht etwa ein Drittel des Jahrgangs nur die Kompetenzstufe II - sie können angegebene Sachverhalte aus einer Textpassage erschließen. Diese Gruppe wird in der Sekundarstufe ohne zusätzliche Fördermaßnahmen Schwierigkeiten bei der Erarbeitung neuer Lerninhalte in allen Fächern haben. Die Leseabneigung beträgt unter GrundschülerInnen 18 Prozent gegenüber 42 Prozent in der Sekundarstufe.

Beim naturwissenschaftlichen Verständnis liegen die ViertklässlerInnen in Deutschland über dem Mittelwert. Es zeigt sich, dass Grundschulkinder nicht nur naturwissenschaftliche Sachverhalte begreifen und in diesen Kategorien denken können, sondern auch insgesamt interessiert und aufgeschlossen gegenüber naturwissenschaftlichen Phänomenen sind. Das vorhandene naturwissenschaftliche Potenzial am Ende der Grundschulzeit wird aber nicht entsprechend genutzt und weitergeführt.

Die Primarstufe als Schule der grundlegenden Bildung, als gemeinsame Schule für alle Kinder, muss stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und entsprechend ihrem Auftrag finanziell und personell ausreichend ausgestattet werden, denn das, was diese Schule als Ausgleich sozialer Ungleichheiten nicht erreicht, wird auf der Ebene der Sekundarstufe nicht mehr kompensiert. Durch die Segregation wird einerseits der Lernerfolg der Leistungsstarken nicht so weiterentwickelt wie von vielen erwartet und andererseits fallen die Jugendlichen der unteren Leistungsgruppe im anregungsarmen Milieu so weit ab, dass sie selbst die Mindestziele schulischer Ausbildung nicht mehr erreichen und zur »Risikogruppe« werden.

Die rund 22 Prozent ViertklässlerInnen mit Migrationshintergrund werden schon in der Grundschule nicht ausreichend gefördert. Sie weisen in allen Bereichen vergleichsweise schwächere Leistungen auf als in anderen Ländern. Dazu meint IGLU-Forscher Wilfried Bos von der Universität Hamburg: »Jeden Euro, den wir heute in der Förderung der Migrantenkinder und sozial benachteiligten Schüler sparen, geben wir später mindestens dreifach für Justiz und Jugendhilfe aus.« Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Sekundarstufe verringert die Stärken und vergrößert die Schwächen. Während in einigen Ländern, wie etwa Norwegen, die Schüler und Schülerinnen in der Sekundarstufe erheblich dazulernen, fallen sie bei uns in ihrer Leistungsfähigkeit stark ab, gleichzeitig nimmt die Leistungsspreizung zu.

Das Hauptproblem im deutschen Schulwesen ist die widersinnige und diskriminierende Auslese nach der vierten Klasse. Es zeigt sich, dass eine verlässliche Prognose zu einem so frühen Zeitpunkt gar nicht möglich ist, denn die Grundschulen liegen mit ihrer Einschätzung häufig falsch. So erhalten Kinder derselben Kompetenzstufe ungleiche Deutschnoten und unterschiedliche Empfehlungen für die weitere Schullaufbahn.

Es gelingt dem dreigliedrigen Schulsystem nicht, die Kinder »richtig« nach ihrer Leistungsfähigkeit zu »sortieren«: Die angestrebten leistungshomogenen Gruppen in den weiterführenden Schulen gibt es nicht. In die Gymnasien kommen viele Kinder mit Lesestufe III und IV, in die Realschulen viele mit Lesestufe II und III, aber auch ein nicht unbedeutender Teil mit Lesestufe IV. An Hauptschulen sind gar Kinder aller Lesestufen vertreten.

Diese offensichtlich falsche Einschätzung hat nicht nur fatale Folgen für die Schullaufbahn, sie führt auch zu Problemen in der Sekundarstufe, denn die aufnehmenden Schulen stellen ihren Unterricht auf eine nicht vorhandene Homogenität ab. So kommt es, dass viele Lehrpersonen glauben, die »falschen« SchülerInnen zu haben und diese schnell »nach unten weiter reichen«.

Als Folge dieser willkürlichen »Sortierung« beklagte kürzlich der Berliner Bildungsforscher Gero Lenhardt ein »pessimistisches Menschenbild in deutschen Schulen«. Die meisten LehrerInnen gingen von der Vorstellung aus, »junge Leute seien von Natur aus ungleich begabt, bildungsresistent und bildungsfeindlich«. Wer glaube, Bildung müsse erzwungen werden, greife leichter zu »Zwangsmitteln« wie Sitzenbleiben, schlechten Noten oder Schulverweis. Die frühe Selektion im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem mache die LehrerInnen zu »Herren über Bildungs- und Lebenschancen der Schüler«. Es sei hierzulande schon eine »gesellschaftliche Neurose«, ständig eine frühe Auslese zu fordern. Wenn Macht in der Schule allgegenwärtig sei, müsse das zwangsläufig bei Eltern und SchülerInnen »Angst und Misstrauen« schüren.

Deshalb sind Bildungsstätten zu fordern, die mehr sind als Wissensfabriken. Schule muss ein Ort sein, wo Bildung ein ergebnisoffener Prozess ist und wo ein Klima gegenseitiger Achtung und Anerkennung herrscht. Qualität schlägt sich nicht in messbaren Testergebnissen nieder und kann durch Druck nicht gesteigert werden.

Aber wie soll eine Neuordnung des Schulsystems ablaufen? Nicht so, wie in Nordrhein-Westfalen bereits angedacht. Dort plant man die Zusammenlegung von Hauptschule, Realschule und Gesamtschule (ohne Oberstufe wäre dies das Aus für die Gesamtschule), während das Gymnasium als Hort humanistischer Bildung unangetastet bleibt. Ein solches Zweisäulenmodell wäre ein Zurück ins 19. Jahrhundert: hier die »Volksschule« für das gemeine Volk und dort das Gymnasium für die gebildeten Schichten. In der LehrerInnenausbildung wird dieser Widersinn noch weiter getrieben. Es soll eine einheitliche Ausbildung für die Klassen 1 bis 10 geben und daneben eine für das Gymnasium.

Die KultusministerInnenkonferenz nannte die Verbesserung des Unterrichts in den weiterführenden Schulen »die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre«. Angesichts der Ergebnisse durch IGLU erhofft sie sich von der Grundschule »wertvolle Anregungen«. Mit Sicherheit wird dies nur gelingen, wenn eine Debatte um die Schulstruktur mit dem Ziel eröffnet wird, eine Schule für alle Kinder mindestens bis zum 16. Lebensjahr zu schaffen. Allein eine gute Allgemeinbildung ermöglicht die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Herausforderungen und eine Interessenvertretung, die in der Lage ist, die Hintergründe gesellschaftlicher Veränderungen aufzudecken.

Larissa Pfeiffer-Rüssmann ist Lehrerin in Köln. Der Artikel erschien zuerst in der SoZ - Sozialistische Zeitung.