Rassismus, Antirassismus und Bürokratie in Hogwarts

Zur gesellschaftlichen und organisatorischen Struktur der Welt des Harry Potter. Von Andrew MacNeille, Birgit Zimmermann

Der Zeitpunkt kurz vor Veröffentlichung von Harry Potter and the Order of the Phoenix scheint uns geeignet, einen ersten Einstieg in eine Analyse der gesellschaftlichen Zustände dieser ja noch im Wachsen begriffenen Welt zu wagen. Die bisher erschienen Bände 1 bis 4 bieten genug Material, stellen aber auch einen in sich abgeschlossenen, überschaubaren Zeitraum in der Historie der magical community dar - zwischen Sturz und Rückkehr des Dark Lord, Lord Voldemort. Einige, diese Gesellschaft prägende Hauptlinien, können herausgearbeitet werden. Wir setzen im folgenden Beitrag Kenntnis der bisherigen Harry-Potter-Bände voraus. Zitate werden mit dem Namen des jeweiligen Buches (PhSt = Harry Potter and the Philosopher's Stone, ChoS = Chamber of Secrets, ProA = Prisoner of Azkaban, GoF = Goblet of Fire) und der Kapitelnummer belegt.

Magical - Non-Magical

Diskriminierungsmuster nach Vorbild der »Muggle«-Welt scheinen in der magical community eine nur untergeordnete Rolle zu spielen und nahezu ausschließlich auf der Dark Side aufzutauchen. Die Integration von Schülerinnen nichtbritischer Herkunft - Cho Chang, Parvati und Padma Patil - scheint so weitgehend zu funktionieren, dass die Herkunft dieser Schülerinnen weder für Autorin noch für die handelnden Personen einer Erwähnung wert ist. Ähnliches gilt auch für die farbige Angelina Johnson, deren Hautfarbe nur einmal erwähnt wird (GoF 16). In der amerikanischen Ausgabe wird Harry Potters Mit-Gryffindor Dean Thomas als Farbiger eingeführt; dessen bester Freund Seamus Finnigan ist offensichtlich Ire. Ob das unproblematische Zusammenleben von SchülerInnen britischer und nichtbritischer Herkunft auch für die Dark Side gilt, lässt sich schwer ermitteln. Immerhin gehört dem der Dark Side wenigstens nahestehenden Hause Slytherin ein Blaise Zabini (PhSt 7) an, über den bisher nichts Näheres bekannt ist. Die gleichgewichtige Teilhabe von Frauen und Männern am Leben der magical community scheint überwiegend gewährleistet zu sein, wobei allerdings sowohl das organisatorische Oberhaupt der Gesellschaft, Minister Cornelius Fudge, als auch deren »graue Eminenz« Albus Dumbledore, Männer sind.

Frauen in leitenden Positionen sind Dumbledores Stellvertreterin, Professorin Minerva McGonagall, die Direktorin der Schule Beauxbatons, Olympe Maxime, sowie die Anführerin der Wassermenschen, Murcus (GoF 26). Die GründerInnen von Hogwarts waren je zwei Männer und Frauen. Kollegium und SchülerInnenschaft von Hogwarts scheinen quotiert zu sein. An den Quidditch-Mannschaften sind Jungen und Mädchen beteiligt. Die Ausnahme bildet Slytherin: wir erfahren bisher von nur zwei Schülerinnen (Parkinson, Bulstrode), ihr Quidditch-Team besteht nur aus Jungen (ChoS 7). Überhaupt scheint es nur wenige weibliche Anhängerinnen der Dark Side zu geben: Wir erfahren lediglich von einer Frau Lestrange, und diese findet auch nur als Teil eines Ehepaares Erwähnung (GoF 30, 33).

Markanteste Trennlinie zwischen Normativem und außerhalb der Norm Befindlichem ist das Verhältnis der magical community zur non-magical community (Muggles) bzw. zu MagierInnen nichtmagischer Abstammung. Die Ablehnung und aktive Diskriminierung dieser Gruppen durch die Dark Side zieht sich als Hauptthema durch alle bisher erschienenen Bücher (und wird sich aller Voraussicht nach fortsetzen), während aktive GegnerInnenschaft zur Dark Side sich im Bestreben nach Harmonie zwischen magical und non-magical community äußert. Stellvertretend für zahlreiche Formgebungen der durch die Dark Side ausgeübten Diskriminierung ist der rassistische und zweifellos der nationalsozialistischen Blut- und Rassenmetaphorik entlehnte Begriff Mudblood für MagierInnen nichtmagischer Abstammung (u. a. ChoS 7).

An anderer Stelle fallen die Namen riff-raff (PhSt 6; GoF 37) oder slime (ChoS 12). Harry Potters Antagonist von der Dark Side, Draco Malfoy, führt sich mit dem Bekenntnis »You'll soon find out some wizarding families are much better than others, Potter« (PhSt 6) ein. Das Beharren auf der determinierten Höherwertigkeit von purebloods ist ein auf der Dark Side tiefverwurzeltes, mindestens auf Salazar Slytherin und damit auf die Gründungszeit Hogwarts' vor über tausend Jahren zurückgehendes Phänomen (ChoS 9). Die Dark Side schreckt nicht davor zurück, diesen Rassismus in pogromartig anmutenden Ausfällen gegen Muggles auszuleben (GoF 9). Den Mitgliedern der magical community außerhalb der Dark Side wird eine größere Bandbreite an Sichtweisen zugeordnet, welche von einer gewissen herablassend-gönnerhaften Toleranz gegenüber Muggles bis hin zu explizit formulierter Ablehnung von Rassismus reicht. Albus Dumbledore formuliert leitmotivisch eine klare Ablehnung jedweden in der Herkunft wurzelnden Determinismus: »It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities« (ChoS 18). Ron Weasley bringt es auf den Punkt: »Mudblood's a really foul name for someone who was Muggle-born (…) I mean, the rest of us know it doesn't make any difference at all. (…) It's a disgusting thing to call someone« (ChoS 7).

Die Sympathien, die Rons Vater, Arthur Weasley, für Muggles hegt, machen ihn in den Augen der pure-blood-community zum Verräter, was umso schlimmer erscheinen muss, da die Weasleys als eine der ältesten magischen Familien gelten: »that flea-bitten, Muggle-loving fool Arhur Weasley«; (ChoS 4); »Arthur Weasley loves Muggles so much he should snap his wand in half and go and join them« (ChoS 12). Arthur Weasley ist aber auch nicht frei von den verbreiteten unbewussten, inoffensiven Rassismen gegenüber Muggles, wie aus seiner wohlwollend-gönnerhaften Herablassung diesen gegenüber durchscheint, und welche weit verbreitet ist. Hier erinnert sie an eine Monty-Python-Karikatur eines britischen Forschers der Kolonialzeit, der auf einen besonders exotischen Stamm von »Wilden« getroffen ist und voller Begeisterung seiner Faszination darüber Ausdruck gibt, welchen Einfallsreichtum diese Leute an den Tag legen, um mit so primitiven, nicht-magischen Mitteln wie Elektrizität und Verbrennungsmotoren ihren Alltag zu bewältigen (u. a. ChoS 4).

Master - Ministry

Wie sich die magical community selbst organisiert, ist bisher nur bruchstückhaft bekannt. Oberste organisatorische Instanz ist das Ministerium, das Ministry of Magic. Dieses scheint weniger eine politische Regierung zu sein als eine bürokratische Verwaltung aller Bereiche magischen Lebens. Diese Bürokratie besteht aus zahllosen fachspezifischen Unterabteilungen, BeamtInnen und Projekten, welche von der Autorin, reichlich karikiert, mit eindeutigen Anspielungen u.a. auf die EU-Bürokratie geschildert wird: »A report for the Department of International Magical Co-operation (…) We're trying to standardise cauldron thickness. Some of these foreign imports are just a shade too thin - leakages have been increasing at a rate of almost three per cent a year« (GoF 5).

Trotz ihrer teilweise kafkaesken Züge wirkt die Ministerialbürokratie im Großen und Ganzen weniger bedrohlich als vielmehr ineffizient und lächerlich. Allgemeines Schimpfen über das Ministerium (»Ministry o'Magic messin' things up as usual«, PhSt 5) und simplifizierende Pressekampagnen gegen seine bürokratische Ineffizienz (GoF 10) sind Abbilder westeuropäischen Alltages. Das harmlos-karikaturartige Bild des Ministeriums hat aber Schattenseiten. Zunächst erfahren wir von keinerlei Legitimation der Autorität des Ministeriums. Zwar scheint die Person des Ministers in hohem Ausmaße von der öffentlichen Meinung abhängig zu sein, wie sich aus einer Äußerung von Sirius Black über Barty Crouch ableiten lässt (GoF 27), aber eine demokratische Struktur, geschweige denn Kontrolle, ist bisher nicht erkennbar.

Justiz und Strafvollzug scheinen u. a. in Gestalt eines Council of Magical Law und dem Gefängnis von Azkaban dem Ministerium bei- oder gar untergeordnet zu sein. Die Urteile der Justiz sind insbesondere in Krisenzeiten drakonisch und werden mitunter ohne Gerichtsverfahren verhängt (GoF 27). Von den inhumanen Haftbedingungen in Azkaban erfahren wir vielfach. Gerade die noch ungeklärte Bindung der Justiz an das Ministerium lässt dessen organisatorische Funktion zur Allmacht mutieren. Die Unabhängigkeit der Justiz darf angesichts eines durch die persönliche Einflussnahme eines Lucius Malfoy durchgesetzten und völlig ungerechtfertigten Todesurteils gegen einen Hippogriff (ProA) in Zweifel gezogen werden. Darüber hinaus scheinen Persönlichkeiten in verantwortlicher Stellung immer wieder anfällig für persönlichen Ehrgeiz zu sein. Dies wird exemplarisch aufgezeigt anhand der Karrieren zweier Spitzenbeamter, Ludo Bagman und insbesondere Barty Crouch (»Crouch fought violence with violence (…). He became as ruthless and cruel as many on the Dark Side«, GoF 27). Auch der Minister selbst ist vor persönlichem Machthunger, der seine Verantwortung für die magical community überlagert, nicht gefeit (»You are blinded (…) by the love of the office you hold, Cornelius«, GoF 36).

Die Dark Side organisiert sich relativ überschaubar unter einer gottgleichen Alleinherrschaft des allmächtigen Führers Lord Voldemort. Diese Herrschaft beruht auf dem Instrumentarium des Schreckens. Sie funktioniert umfassend und ist in Kombination mit den beschriebenen rassistischen Strukturen faschistisch.

Entsprechend unterwirft sich die Dark Side Voldemort nach seiner Rückkehr bedingungslos und völlig. GoF 33 zeigt uns, wie sich Voldemorts AnhängerInnen, die Death Eaters, in einer uns widerwärtig anmutenden Geste der Selbstdemütigung dem wiedererstandenen Voldemort zu Füßen werfen, ihm den Saum der Gewänder küssen und ihren Master um Gnade anflehen. Den Schrecken, mit dem Voldemort Menschen in seine Anhängerschaft zwingt - oder sie beseitigt - schildert sein Diener Peter Pettigrew durchaus glaubwürdig: »The Dark Lord … you have no idea … he has weapons you can't imagine … I was scared, Sirius, I was never brave like you and Remus and James. (…) He - he was taking over everywhere! (…) He would have killed me, Sirius« (ProA 19).

Nach dem Fall des Lord Voldemort gelingt es zahlreichen seiner AnhängerInnen, sich vom Vorwurf der Unterstützung von oder der aktiven Teilnahme an Voldemorts System zu befreien, und sich in die Post-Voldemort-Gesellschaft zu integrieren: »›Malfoy was cleared!‹ said Fudge (…) ›A very old family - donations to excellent causes.‹ ›Macnair!‹ Harry continued. ›Also cleared! Now working for the Ministry!‹« (GoF 36, vgl. auch GoF 30, wo die Prozesse gegen die Death Eaters gezeigt werden). Parallelen zu Entnazifizierung und zu personellen Kontinuitäten in Deutschland nach 1945 sind unübersehbar. Ungeklärt hingegen muss hier bleiben, ob der von Dumbledore 1945 besiegte, germanisch klingende dunkle Magier Grindelwald - PhSt 6 - in Wirklichkeit Adolf Hitler war.

Resümee

Wir lernen die Welt des Harry Potter fast ausschließlich aus der Position ihrer intellektuellen Schicht kennen. Aus deren Blickwinkel erleben wir eine von zahllosen Alltäglichkeiten geprägte Welt mit einer Vielzahl von menschlichen Charakterzügen, Stärken und Schwächen, welche nicht per se »gut« sein kann, aber bewahrenswürdig und reformierbar. Eine Vision von einer völlig erneuerten, veränderten »besseren« Welt wird nicht beschworen. Vielmehr gilt es, die bestehende Welt gegenüber dem Bedrohungspotential einer rassistischen Schreckensherrschaft der Dark Side zu verteidigen.