»Das Leben fünf Gramm besser machen«

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erhält Lew-Kopelew-Preis. Sie kritisiert das Vorgehen des russischen Militärs im Tschetschenienkrieg. Die deutsche Politik will ihr darin allerdings nicht folgen. Von Julia Zogel

Die offizielle Verleihung des Lew-Kopelew-Preises für Frieden und Menschenrechte am 7. April geriet zum hochkarätigen Medienereignis mit gepanzerten Limousinen und Einlasskontrolle. Neben Bundespräsident Johannes Rau nahmen auch Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) und der WDR-Intendant Fritz Pleitgen an dem Festakt in der Kölner Kreissparkasse am Neumarkt teil. Gewürdigt wurde die russische Menschrechtsorganisation Memorial sowohl für den Einsatz für die Menschenrechte im heutigen Russland als auch für die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen der Sowjetunion.

Bedeutend informeller, dafür um so informativer war die Eröffnung der dazugehörigen Ausstellung Langes Echo - Russland im 20. Jahrhundert: Konstanten und Variablen im Kölner Lew Kopelew Forum am Abend zuvor. Geboten wurde neben einer Dokumentation mit Fotos und aktuellen Umfrageergebnissen, die die Kontinuität von Totalitarismus-Stereotypen in der Sowjetunion und in Russland beleuchtet, auch eine Diskussion mit den PreisträgerInnen selber. Neben dem Vorsitzenden Arsenij Roginskij waren noch Sergej Kowaljow, Lena Zhemkova und Aleksandr Daniel angereist, ebenfalls MenschenrechtlerInnen der ersten Stunde. Sie skizzierten die umfangreiche Tätigkeit der seit 15 Jahren aktiven Organisation, die neben der Erfassung und Dokumentation stalinistischer Verbrechen und konkreter Hilfe für deren Opfer gegen die Verletzung von Menschenrechten in Russland kämpft.

Der Kampf um die historische Wahrheit über die Sowjetunion und um die Menschenrechte ist für Arsenij Roginskij eng miteinander verbunden. Die ersten Archive, die das Schicksal von Opfern des Sowjet-Systems systematisch zu dokumentieren versuchen, gehen auf ihn und seine Freunde aus der sowjetischen DissidentInnen-Szene Anfang der Siebzigerjahre zurück. Schon zu Zeiten seines Studiums an der Universität Tartu interessierte sich Roginskij, dessen eigener Vater zu Beginn der Fünfzigerjahre in einem sowjetischen Lager getötet wurde, für soziologische und psychologische Aspekte in der Geschichtsschreibung. Seine Pionierarbeit, die ihm in den Achtzigerjahren mehrere Jahre Lagerhaft einbrachte, setzte er bis heute mit der Suche nach Opfern, der Herausgabe von Gedächtnisbüchern und der Anlage von Datenbanken fort.

Der Diskurs um die heutige Menschenrechtssituation in Russland wird klar von den Tschetschenien-Kriegen dominiert. Sergej Kowaljow sieht die Aufgabe von Memorial in Tschetschenien als Monitoringtätigkeit, die die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen vor Ort aufmerksam analysieren, dokumentieren und vor allem publik machen müsse. Schonungslos zeigten Roginskij und Kowaljow die politische Relevanz des Tschetschenien-Krieges auf: Der Krieg sei aus wahlkampftaktischen Gründen geführt worden. Ganz andere Aspekte des Themas hob hingegen Rau in seiner Laudatio hervor. Seit dem September 2001 sei eine neue Epoche in den deutsch-russischen Beziehungen eingetreten. Zum Vorgehen der russischen Militär- und Sicherheitsorgane gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien, das der Europarat in etlichen Resolutionen und Appellen als unverhältnismäßig gewalttätig kritisiert hatte, fand der Bundespräsident deutlich mildere Worte als die Memorial-AktivistInnen: Der Kampf gegen den Terrorismus müsse so geführt werden, dass die Menschenrechte dabei eingehalten werden, so sein formelhaft wirkendes Statement.

Kowaljow hob bei der Ausstellungseröffnung hingegen hervor, dass die Regierung Putin für ein neues Stadium der russischen Politik stehe: für die Upravljaemaja Demokratija, was soviel wie »Geleitete Demokratie« bedeutet. Diese zeichne sich durch Einmischungen in die Pressefreiheit und die Wiedererrichtung autoritärer Herrschaftsstrukturen aus. Am grellsten würde dieser Herrschaftsmodus durch den wiederaufgenommenen Krieg in Tschetschenien illustriert.

Trotz der Kritik an der russischen Regierung sprach sich Roginskij für eine Zusammenarbeit mit Regierungsorganen aus, wenn dies zur Verbesserung der Menschenrechtslage beitrage: So könne man »das Leben wenigstens fünf Gramm besser machen«, auch wenn nur kleine Fortschritte dabei erzielt würden. Ein Beispiel dafür sei der »Befehl Nr. 80«, ein Erlass eines Oberkommandierenden der russischen Armee, der Regeln für das Vorgehen russischer Militärs und Sicherheitskräfte bei Sonderoperationen festlegt. Der Erlass kam auf den Druck von Memorial zustande und lässt die willkürliche und bislang anonyme Schikanierung von ZivilistInnen erahnen: Die Militärs sind jetzt verpflichtet, an Schutzpanzerwagen deutliche Kennzeichen anzubringen, ihre Namen preiszugeben, ihre Operationen unter Aufsicht lokaler Verwaltungen und Staatsanwaltschaften durchzuführen und Plätze, an denen Gefangene festgehalten werden, öffentlich zu machen. Erstmals seien somit die Verfehlungen mancher OffizierInnen und Armeeangehöriger dokumentiert worden. Dies entspricht der Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft in kleinen Schritten und ist wohl auch ein Grund dafür, dass Arsenij Roginskij den Lew-Kopelev-Preis »dankbar, aber ohne falsche Scham« entgegen nahm.