K(l)eine Geschichte des Rückwärts-Kriechens

Von Birte Teitscheid

Für Klaus Bednarz ist sie zur Zeit die »Stimme der dritten Welt«. Ihre politischen Essays werden quer durch die internationale Presselandschaft gereicht. Ulrich Wickert tappte, indem er sie zitierte, in die Falle der auf nationalen Konsens angelegten deutschen Presselandschaft. Im November nahm sie in Paris den für den Kampf gegen Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung mit 150000 Mark dotierten Grand Prix der französischen Academie Universelle des Cultures entgegen.

Die Rede ist von der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy, die bereits wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September mit einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Beitrag Aufsehen erregte, in dem sie der US-Regierung eine Mitverantwortung für die Terrorattacken gab. Zugleich bezeichnete sie Bin Laden als den »dunklen Doppelgänger« des US-Präsidenten George W. Bush. In einem vom Spiegel abgedruckten Essay beschrieb Roy den Krieg gegen Afghanistan »als einen weiteren terroristischen Akt« im hegemonialen Drang nach Raum.

Während Roy in diesen Wochen der deutschen kritischen Öffentlichkeit die Stimme im Umgang mit amerikanischer Außen- und europäischer Bündnispolitik leiht, ist ihr 1996 erschienener Roman Der Gott der kleinen Dinge aus der Perspektive der Stimmlosen geschrieben, über die sich die Weltgeschichte hinweg bewegt. Es ist die Geschichte einer geschiedenen Frau und ihrer beiden Kinder im südindischen Kerala der Sechzigerjahre, die entgegen der traditionellen Kastenregeln eine Beziehung mit einem Unreinen eingeht.

In der auf Reinheitsidealen aufgebauten indischen Gesellschaft sind Unreine diejenigen, die bis in die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts hinein mit einem Besen in der Hand rückwärts kriechend ihre Spuren verwischen mussten, damit Brahmanen und syrische Christen nicht zufällig auf deren Fußabdrücke traten und sich verunreinigten. Der andauernden Diskriminierung und Verunglimpfung dieser Menschen konnte auch der in den Sechzigerjahren aufkommende Sozialismus nichts anhaben. Abstammung zählt in Indien noch immer mehr als das Parteibuch.

Ammu und ihre Zwillinge Estha und Rahel werden wie ihr Liebhaber zu Opfern der Verhaltensnorm. Rückblickend erzählt die erwachsene Rahel von den kleinen Begebenheiten der letzten Tage bevor die ›große Geschichte‹ der Disziplinierung ihren Lauf nimmt. Sie und ihr Bruder werden in Umerziehungsheime geschickt, der Liebhaber ihrer Mutter den Staatsdienern ausgeliefert. Die Zwillinge, ZeugInnen dieses brutalen Übergriffs, lernen aus dem Vorfall: »Blut auf einem schwarzen Mann ist kaum zu sehen. Aber es riecht. Faulig süß«.

Aus der Perspektive des Kindlichen prägt sich das doppelte Bewußtsein der Minderprivilegierten: Die eigene Identität ist ebenso geprägt von der dominierend- generalisierenden Sichtweise vorkolonialer Tradition und kolonialer Fremdherrschaft wie den zum Teil völlig entgegengesetzten Vorstellungen moderner Lebenserfahrung. Die Sprachlosigkeit, in die Rahels Bruder Estha nach dem Übergriff verfällt, ist vielleicht die deutlichste Antwort auf die Unmöglichkeit, dieses Puzzle an widersprüchlichen Erfahrungen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.

Wenn Arundhati Roy gefragt wird, ob sich ihr fiktionales Werk von den Inhalten ihrer politischen Essays unterscheidet, verneint sie dies. Für sie ist wichtig, politische Inhalte wie eine Geschichte erzählen zu können - auch um zu zeigen, dass »persönliche Verzweiflung nie verzweifelt genug sein kann«.

In ihrem 1997 erschienenen Buch The Cost of Living beschreibt sie, neben dem wachsenden Einfluss der Protestbewegung NBA (Narmada Bachao Andolan), die sich gegen das von der Weltbank initiierte Staudammprojekt am Narmada River formiert hat, auch die Schicksale der Menschen, die für die etwa 3000 geplanten Dämme umgesiedelt werden. Dass der »Konvoi der Namenlosen« endlich in der großen Geschichtsschreibung auftaucht, will sich Arundhati Roys Schreibweise zum Ziel machen.

Arundhati Roy: The Cost of Living, Flamingo 1999, 161 Seiten, 10,41 Euro. Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge, Goldmann Verlag 2000, 380 Seiten, 9,20 Euro.