Nibelungentreue aufkündigen

Prof. Norbert Finzsch über den Krieg gegen Afghanistan Von Norbert Finzsch

Ich spreche heute zu Ihnen, weil ich der Ansicht bin, dass der Krieg der amerikanischen Armee und ihrer europäischen Alliierten in Afghanistan sofort beendet werden muss. Für meine Forderung gibt es verschiedene Gründe.

Zum einen kann ein Krieg, der mit Bomben und Flugzeugen gegen eine Zivilbevölkerung geführt wird, nicht den Terrorismus beenden. Der Terrorismus hat ökonomische, gesellschaftliche und politische Ursachen, die sich einer Bombardierung entziehen. Hier muss die Politik einer langfristigen Änderung das kurzsichtige Muskelspiel der amerikanischen Administration und ihrer Verbündeten ersetzen. Erlass der Auslandsschulden, gerechtere wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Zentralen des westlichen Kapitals und den Ländern der wirtschaftlichen Peripherie und eine Politik der humanitären Hilfe sind hier angebracht, nicht eine Demonstration westlicher Zivilisation in Form von intelligenten Bomben und Cruise Missiles.

Zum Zweiten ist dieser Krieg zutiefst zynisch, da er sich gegen die falschen Gegner richtet, nämlich die afghanische Bevölkerung, die unter einem Regime leidet, das die amerikanische Politik im wesentlichen mit installiert und zu verantworten hat.

Zum Dritten ist dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen, weil einer Bevölkerung, die entschlossen ist, ausländischen Invasoren entgegen zu treten, mit High-Tech-Kriegen nicht beizukommen ist. Das sollten vor allem diejenigen Politiker verstehen, die Lehren aus dem Verlauf des Vietnamkrieges und des sowjetischen Krieges in Afghanistan gezogen haben.

Zum Vierten wird im Windschatten eines vorgeblichen Krieges gegen den Terrorismus die innenpolitische Stärkung des Staates und die rassistische Ausgrenzung von Minderheiten betrieben, sowohl in den Vereinigten Staaten, wie auch in der Bundesrepublik Deutschland. Am Ausbau staatlicher Verfolgungsmittel beteiligen sich in Deutschland alle Bundestagsparteien mit Ausnahme der PDS. Der starke Staat, wie ihn Politiker von grün bis schwarz wünschen, beseitigt im Namen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus politische und verfassungsmäßige Rechte und höhlt das Grundgesetz, das seit den Notstandsgesetzen und der Terroristenhatz der Siebzigerjahre immer restriktiver interpretiert wurde, weiter aus. Auch in den Vereinigten Staaten steht eine Revision der verfassungsmäßigen Rechte auf dem Programm, an dem sich beide Parteien im Kongress beteiligen, obwohl ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung diese Bestrebungen klar ablehnt. Im Zuge neuer Polizeigesetze und des erweiterten Rasterzugriffs auf in Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer wird eine staatliche Diskriminierungspolitik implementiert, wird das Asylrecht weiter beschränkt, wird das Grundgesetz stärker zu einem Recht umdefiniert, das ausschließlich für Mitglieder eines exklusiven Zirkels von Deutschen gelten soll.

Zum Fünften ist abzusehen, dass die Politik des Westens, gegen Afghanistan vorzugehen, indem er eine Allianz der undemokratischen Regime zusammenhält, zur Destabilisierung des Mittleren und Nahen Ostens führt und den Friedensprozess in Palästina und Israel behindert. Allein aus realpolitischen Gründen müsste der amerikanischen Regierung daran gelegen sein, den Krieg zu beenden, bevor Pakistan noch tiefer in den Krieg verwickelt wird.

Aus den genannten Gründen richte ich hier und heute die Forderung an die Bundesregierung, der amerikanischen Administration die Nibelungentreue aufzukündigen und verlange eine sofortige Beendigung des Krieges in Afghanistan.

Prof. Norbert Finzsch lehrt an der Anglo-Amerikanische Abteilung des Historischen Seminars der Universität Köln. Er hielt diese Rede bei der Abschlusskundgebung anlässlich der Demonstration gegen den Krieg am 30. Oktober 2001.