Nochmal 14 sein

In Vertraute Fremde reist ein Mann in seine eigene Jugend zurück und klärt ein ungelöstes Rätsel in seiner Familie auf. Von Anna Hölscher

Thomas ist Comiczeichner und lebt in Paris. Eines Morgens macht er sich auf den Weg zu einer Comicmesse in der französischen Provinz. Der Abschied von Frau und Töchtern fällt sehr kurz aus, jeder scheint mit sich selbst beschäftigt zu sein. Auf dem Heimweg steigt Thomas in einen falschen Zug. Er schläft ein und findet sich im Ort seiner Kindheit wieder, einem kleinen Dorf in den Bergen, das er viele Jahre lang nicht besucht hat. Dort trifft er einen alten Schulfreund, schaut sich sein verlassenes Elternhaus an und besucht schließlich das Grab seiner Mutter. Von Erinnerungen überwältigt, taumelt und stürzt er. Als er wieder zu sich kommt, findet er sich in seiner Vergangenheit wieder - als 14-jähriger Teenager.

Anfangs ist es schwierig für Thomas, sich in den Sechzigerjahren zurechtzufinden. Aber er beginnt schnell, seine zweite Jugend zu genießen. Er verbringt viel Zeit mit seiner Mutter, spielt mit seiner kleinen Schwester und erlebt noch einmal das süße Gefühl der ersten Verliebtheit. Doch dann naht der Tag, an dem der Vater die Familie verlassen hat, ein Ereignis, das Thomas' ganzes Leben geprägt hat. Er setzt nun alles daran, die Beweggründe seines Vaters herauszufinden und die Stimmung zwischen den Eltern zu bessern - vergeblich. Der Vater verlässt unbemerkt das Haus. Thomas folgt ihm verzweifelt, um ihn doch noch aufzuhalten.

Vertraute Fremde, basierend auf dem gleichnamigen Manga von Jiro Taniguchi, hätte von der Handlung her ein kitschiger Fantasyfilm werden können. Das ist er alerdings ganz und gar nicht. Regisseur Sam Gabarski erzählt Thomas' Reise sehr poetisch. Er schafft durch Kameraführung, Lichtverhältnisse und die Musik der Synthi-Pop-Band Air eine intensive, traumartige Atmosphäre, die emotional berührt, ohne übertrieben sentimental zu sein.