Schleichende Wende: Die Zeit nach der Wiedervereinigung unter der Lupe

Von Julia Groth

Was meint Martin Walser, wenn er vom geteilten Deutschland als einer »blutenden Wunde« spricht? Und was Richard von Weizsäcker, wenn er bei einer Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes erklärt, das »deutsche Volk« sei immer noch geteilt? Die Vorstellung von einem Volk, das trotz der Mauer immer zusammengehörte, ist nur eine der Ideen von der deutschen Nation, die Joannah Caborn in ihrem Buch untersucht. Schleichende Wende - Diskurse von Nation und Erinnerung bei der Konstituierung der Berliner Republik ist eine Analyse der politischen und gesellschaftlichen Diskurse über Nation und Nationalismus seit den frühen Neunzigerjahren. Die Frankfurter Rundschau (FR), die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Sächsische Zeitung hat die Autorin dafür unter die Lupe genommen. Wie viele wissenschaftliche Arbeiten ist Schleichende Wende nicht einfach zu lesen. Die Erklärungen zur Diskurstheorie und zur Analysemethode, die Caborn zu Anfang des Buches erklärt, können bei der Lektüre guten Gewissens ausgespart werden. Interessanter wird es beispielsweise, wenn sie auf die Hauptstadtdebatte zu sprechen kommt. Bonn oder Berlin? Erstere wurde in den Medien als kultiviert und bürgerlich dargestellt, letztere als besonders fortschrittlich. Die BonnerInnen seien vom Wesen her offen und herzlich, typische rheinische Frohnaturen. Die BerlinerInnen wurden dagegen häufig als notorische Meckerer beschrieben. »Vorlaut, großmäulig, angeberhaft, kaltschnäuzig und zynisch« sollen sie sein, schrieb die FAZ Anfang 1995. Und die FR stellte zwei Jahre zuvor fest: »Bei der Berliner Schnauze denkste immer, gleich bellt einer hinter dir.« Als Folge dieser angeblichen Beobachtungen wurde in den Medien oft behauptet, mit dem Umzug der Regierung nach Berlin werde sich in Deutschland ein neuer Politikstil entwickeln, der offener, kritischer und zupackender sei. Denn »jede Hauptstadt ist ein Spiegel der Nation«, wie der damalige Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen 1995 gegenüber der FAZ sagte. Caborns Versuch, die Medienstimmen zum Regierungsumzug nach Berlin möglichst umfassend auszuwerten, scheint an manchen Stellen etwas beliebig. Wenn Zeitungen darüber schreiben, dass es in der jetzigen Hauptstadt einen anderen Baustil gibt als in Bonn, mag das stimmen. Interessant oder von Belang ist es deswegen aber noch nicht. Und was die Glaskuppel des Bundestagsgebäudes mit der Entstehung eines neuen Nationalgefühls zu tun hat, ist nur schwer nachvollziehbar.