»Unglaubliche Bedeutung«

Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft: ein Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschland? Ja, findet der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling. Der Sieg habe die Deutschen mit der Demokratie versöhnt. Von Volker Elste

Dietrich Schulze-Marmeling, 47, hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des Fußballs herausgegeben. Im Interview mit der philtrat äußert er sich zu den Auswirkungen des Weltmeistertitels 1954 auf die Nachkriegsgeschichte der BRD und zur politischen Haltung des Deutschen Fußballbundes (DFB). Das Gespräch führte Volker Elste.

Der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 als »Teil der Staatsgründung« der BRD bezeichnet. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Vielleicht nicht unbedingt der Staatsgründung der Bundesrepublik. Aber ich denke schon, dass dieser Sieg eine nicht unwesentliche Rolle bei der Akzeptanz der Demokratie in der BRD gespielt hat. Noch Anfang der Fünfzigerjahre konnten sich die Leute mit der als aufoktroyiert empfundenen Demokratie nicht anfreunden und nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung dachte rein republikanisch. Unter anderem durch den Sieg von Bern erwies sich jetzt die Demokratie als erfolgreich und effizient. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die Leute mit dieser »synthetischen« Demokratie versöhnen konnten.

Inwiefern spielte zugleich ein »Wir sind wieder wer« eine Rolle?

Man muss das sicherlich in Betracht ziehen. Die Deutschen lagen selbstverschuldet am Boden und das Selbstbewusstsein entwickelte sich nur langsam - auch bedingt durch den zeitgleich stattfindenden wirtschaftlichen Aufschwung. Dies hatte natürlich positive und negative Auswirkungen. Positiv, wenn es mit einer Identifizierung der neuen politischen Verhältnisse einherging. Negativ, wenn man davon ausging, dass Deutschland bald wieder eine Größe im internationalen Staatensystem darstellen würde.

Unmittelbar nach Spielende sangen deutsche ZuschauerInnen die erste Strophe der Nationalhymne. Und beim Empfang der Weltmeister in München hielt DFB-Präsident Peco Bauwens eine von der Süddeutschen Zeitung als »Sieg-Heil-Rede« eingestufte Ansprache. Wie bewerten sie diese Ereignisse?

Ich will vor allem auf Peco Bauwens und den DFB eingehen. Der DFB war bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine strikt nationalkonservative Organisation. Später hatte der DFB nicht die geringsten Probleme mit dem NS-Regime. Es gibt nur wenige Institutionen, die von der Weimarer Republik über die NS-Zeit bis zur Bundesrepublik derartige personelle Kontinuitäten aufwiesen wie der DFB. Jeglicher Versuch, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, wurde vom DFB zurückgewiesen. Auch Bauwens arbeitete als Nationalkonservativer sehr eng mit dem NS-Regime zusammen und erfüllte dessen Vorgaben beim Weltfußballverband FIFA.

Die furchtbare Rede von Bauwens wurde in den Medien und von der Politik in vernichtender Weise kritisiert. Derartige Positionen waren einfach nicht angesagt. Meiner Meinung nach auch nicht in der Bevölkerung, da diese als Reaktion auf die NS-Zeit eine Art apolitische Haltung entwickelt hatte. In diesem Zusammenhang kam die radikalpolitische Rede von Bauwens nicht gut an. Das Verhalten der Politik 1954 ist generell äußerst interessant. Das Finale von Bern hatte eine unglaubliche politische und atmosphärische Bedeutung, aber die Politik hat sich distanziert verhalten: Weder der Bundeskanzler noch irgendein Minister waren anwesend. Heute ist es nahezu unvorstellbar, dass ein derartiges Ereignis nicht von politischer Seite instrumentalisiert würde. 1954 hat eher die Haltung vorgeherrscht, Sport und Politik strikt voneinander zu trennen - auch in Abgrenzung zu diesbezüglichen Vorgängen zwischen 1933 und 1945. Vielleicht fürchtete die Regierung aber auch, dass ein Überschwappen der Emotionen dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland schaden könnte.

Im Ausland wurden die Geschehnisse im Umfeld des Finales dann auch scharf kritisiert.

Im Ausland sah man zurecht sehr sensibel auf die Vorgänge in der BRD. Dies ist auch heute noch der Fall, so zum Beispiel, wenn Länderspiele zwischen Deutschland und England oder Deutschland und den Niederlanden stattfinden. Dass man die Bauwens-Rede und das Absingen der falschen Strophe angegriffen hat, war logisch.

Warum bleiben ihrer Ansicht nach diese negativen Aspekte in der medialen Aufarbeitung weitgehend außen vor?

In einer Dokumentation müssen sie eigentlich gezeigt werden, da es sich andernfalls um eine Unterschlagung von Vorgängen handelt, die einfach stattgefunden haben. Man muss aber auch die Gesamtbedeutung dieser Geschehnisse sehen. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der WM 1954 ist beispielsweise die Rede von Bauwens nur eine Fußnote. Dies gilt allerdings nicht für den DFB. Wenn man die politische Haltung des DFB untersucht, ist die Bauwens-Rede natürlich eine eminent wichtige Angelegenheit. Auf keinen Fall darf man sie derart verharmlosen, wie dies der DFB in seiner Jubiläumsschrift macht, wenn es heißt, einige seien im allgemeinen Jubel halt über das Ziel hinausgeschossen.