Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie der Sozial- und Kulturwissenschaften am Cohn-Institut der Universität Tel Aviv. Dort leitet er auch das Institut für deutsche Geschichte. Zuckermann ist 1949 in Tel-Aviv geboren und lebte zwischen 1960 und 1970 in Deutschland. Nach der Rückkehr nach Israel studierte er Soziologie, Politologie und Geschichte an der Universität Tel-Aviv. Er versteht sich als Marxist in der Tradition der Kritischen Theorie. Für die philtrat sprach Patrick Hagen mit ihm über den Nahost-Konflikt, Antisemitismus und die Rolle der EU.
In den letzten Monaten ließ sich eine Eskalation der Situation im Nahen Osten beobachten. Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?
Das Scheitern des Friedensprozesses nach Oslo hängt vor allen Dingen mit den verschiedenen Erwartungshorizonten von Israelis und Palästinensern zusammen. In der Folge der Oslo-Abkommen bot sich - zumindest scheinbar - die historisch reale Möglichkeit, den Konflikt endgültig beizulegen. Die Israelis haben unter der Regierung Barak versucht, die Verhandlungen auf eine endgültige Beilegung des Konflikts hin voranzutreiben und drängten auch die Palästinenser in diese Zielvorgabe.
In Camp David stellte sich dann heraus, dass mit der endgültigen Lösung des Konflikts für die Israelis und die Palästinenser zwei unterschiedliche Vorstellungen verbunden sind: Für die Palästinenser war eine finale Beilegung des Konflikts mit einem fast totalen Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten verbunden, und zwar sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen. Zudem beinhaltete sie einen nahezu vollständigen Abbau der Siedlungen. Auch wäre eine Klärung der Jerusalemfrage im Sinne einer Zweistaatenlösung und eine zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser nötig gewesen.
An dieser Stelle zeigte sich, dass Barak nicht bereit war, so weit zu gehen. Vor allem aber musste er sich klar machen, dass er dafür keinen Rückhalt in der Bevölkerung besaß. Hätte er diese vier Punkte akzeptiert, wäre es in der israelischen Öffentlichkeit auf großen Widerstand gestoßen. Als klar wurde, dass Barak die Wahlen verlieren würde, hat er den Rückzug angetreten. Mit dem Verlust der Hoffnung auf Frieden brach die latent schon immer vorhandene Gewalt aus. In den letzten zwei Monaten ist die Gewalt nun eskaliert.
Sie haben bereits die Frage des »Rückkehrrechts« angesprochen, dass konsequent angewandt ein Ende von Israel als jüdischem Staat bedeuten könnte
Ich sprach von einer symbolischen Anerkennung des Rückkehrrechtes. Das würde zunächst erst einmal bedeuten, dass Israel anerkennt, dass es ein historisches Unrecht an den Palästinensern begangen hat. Derartige Anerkennungen gibt es mittlerweile zwischen verschiedenen Kollektiven. Zum Beispiel hat sich der Papst für das Verhältnis der Katholischen Kirche zu den Juden entschuldigt und eine gewisse Reue ausgesprochen. Das macht natürlich nicht wett, wie es den Juden zweitausend Jahre lang mit dem Christentum ergangen ist. Aber es ist zumindest eine symbolische Anerkennung.
Zum anderen würde ein symbolisches Rückkehrrecht ganz praktisch bedeuten, dass man dieses auch aushandeln müsste. Es ist, denke ich, allen Beteiligten klar, dass es nicht darum gehen kann, dass vier bis fünf Millionen Palästinenser in das Kernland Israels zurückkehren. Davon gehen auch die meisten Palästinenser nicht aus. Ich denke, es ist realistisch, von einer Zahl zwischen 150000 und 300000 Palästinensern auszugehen, die im Zuge der Wiedervereinigung von Familien oder aufgrund historischer materieller Ansprüche nach Israel zurückkehren dürfen. Aber das muss, wie gesagt, ausgehandelt werden. Für den Rest müsste es Entschädigungszahlungen geben, vor allem für die materiellen Einbußen. Auch wichtige Vertreter der palästinensischen Intelligenz sehen heute, dass Israel einen Rückkehrprozess von Millionen Palästinensern nicht akzeptieren kann.
Ist zurzeit eine politische Lösung des Konflikts überhaupt noch denkbar?
Denkbar ist sie immer und daran muss auch festgehalten werden. Es gibt keine militärische Lösung des Konfliktes. Ein Niederkämpfen der Palästinenser oder auch eine ernstzunehmende Bedrohung Israels im Rahmen eines regionalen Krieges kann nur in einem apokalyptischen Niedergang des ganzen Nahen Ostens enden.
Weder lässt sich der Terror mit militärischen Mitteln bekämpfen, noch lässt sich die Selbstbestimmung der Palästinenser den Israelis militärisch aufzwingen. Das heißt, dass es eine politische Lösung des Konflikts geben muss. Die Tatsache, dass die Optionen, die es in den Neunzigerjahren gab, nicht wahrgenommen wurden, bedeutet nicht, dass es nicht zukünftig noch eine Lösung geben kann. Im Moment sieht es allerdings sehr schlecht aus. Weil sowohl von israelischer als auch von palästinensischer Seite die Strukturen der Annäherung und der Vertrauensbildung mehr oder minder zerschlagen worden sind, wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis man den Hass und das Misstrauen wird überwinden können. Ob zwischen dem israelischen und einem zukünftigen palästinensischen Staat irgendwann eine konföderative Gesamtstruktur unter Umständen auch mit Jordanien, eingegangen wird, ist im Moment noch unabsehbar. Zu wünschen wäre es allemal.
Aber eine palästinensische Staatsgründung erscheint Ihnen unumgehbar?
Die Staatsgründung Palästinas ist unumgehbar, weil die Palästinenser einen Staat haben wollen. Ich rede jetzt nicht als Etatist, sondern aus einer historischen Notwendigkeit: Es kann zu keiner Lösung des Konfliktes kommen, wenn kein territorialer Kompromiss erreicht wird. Das bedeutet, dass das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser mit einer Staatsgründung zumindest einen formellen Rahmen erhält. Wenn ein Volk sich historisch selbst bestimmen wollte, ist es bislang noch nie vorgekommen, dass es sich dann letztendlich nicht auch selbst bestimmt hat. Das wird auch im Falle der Palästinenser nicht anders laufen, und das wissen hier alle. Eine nationale Staatsgründung kann später überwunden werden, aber zunächst einmal muss sie erfolgen. Wie lebensfähig ein palästinensischer Staat sein wird und ob er nicht von Israel abhängig sein wird, ist eine ganz andere Sache.
Sie weisen in Ihren Beiträgen zum Nahost-Konflikt oft auf die innere Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft hin. Wie stellen Sie sich die Zukunft dieser Gesellschaft vor?
Die innere Zerrissenheit Israels besteht natürlich. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht aufhebbar wäre. Im Grunde kann sie erst angegangen werden kann, wenn man die friedliche Basis für die Auseinandersetzung mit den inneren Problemen geschaffen hat. Die inneren Probleme, seien es die ethnischen, seien es die klassenmäßigen, die der arabischen Minderheit, die Zuwanderung der russischen Juden oder auch die Frage der Trennung von Staat und Religion - all diese können nur dann angepackt werden, wenn zuerst einmal das außenpolitische, sprich das palästinensische Problem gelöst worden ist.
Sehr viele israelische Politiker sind genau wegen der inneren Probleme nicht bereit, für einen schnellen Frieden zu sorgen. Denn die Entsorgung der Sicherheitsfrage würde mehr oder weniger bedeuten, dass die Beschäftigung mit diesen sehr schwierigen Themen auf der Tagesordnung stünde.
Es gibt vor allem in Europa und bei den PalästinenserInnen Stimmen, die hoffen, dass die USA an Einfluss im Nahen Osten verlieren und gleichzeitig die angeblich neutralere EU an Einfluss dazugewinnt.
In der Tat ist es denkbar, dass die EU stärker an Gewicht gewinnt, weil die Amerikaner - die eigentlich dominante Führungsnation - derzeit deutlich unwillig sind, die Sachen hier an der Wurzel anzupacken. Das hat eher mit ihren woanders liegenden geopolitischen Interessen zu tun. Die EU hat aber ein anderes Problem. Es gibt ja keine einheitliche EU, sie ist sehr facettenreich und spricht vielstimmig. Vor allem darf man aber nicht übersehen, dass Deutschland heute eine dominante Rolle in der EU spielt. Es gibt keine EU ohne Deutschland. Und Deutschland wird sich aus bekannten historischen Gründen hüten, Israel unter existenzbedrohenden Druck zu setzen. Insofern meine ich, dass die EU zwar das Potenzial hätte, in größerem Maße einzugreifen, vor allem, weil die zukünftigen ökonomischen Interessen Israels und Palästinas eher in Europa liegen als in den Vereinigten Staaten, aber es ist fraglich, inwiefern sie dieses Potenzial unter den vorwaltenden Bedingungen verwirklichen kann.
Aber verfolgt nicht auch die EU eigene geopolitische Strategien? Besteht hier nicht die Gefahr, dass Israel in einem künftigen Konflikt zwischen der EU und den USA aufgerieben wird?
Ich denke nicht, dass es im Moment eine ernsthafte Gefahr für einen Konflikt zwischen der EU und den Vereinigten Staaten gibt. Das könnte lediglich auf einer Ebene liegen, wo es sich um eine Herausbildung längerfristiger Machtpositionen handelt. Aufgerieben wird die Region schon heute. Israel und Palästina sind schon in der Blockpolitik während des Kalten Krieges ziemlich aufgerieben worden.
Sie haben eben die Rolle Deutschlands angesprochen. In Deutschland lässt sich besonders in den letzten Monaten ein breiter antiisraelischer Konsens beobachten, der nahezu alle politischen Fraktionen umfasst.
Ich würde das nicht unbedingt als antiisraelisch betrachten, auch wenn in der Tat sehr viele Momente mit hineinspielen. Man weiß nie genau, wann Kritik an Israel sich als verbrämter Antizionismus erweist, der sich wiederum als verbrämter Antisemitismus erweisen kann. Ich meine gerade, dass man auf keinen Fall jede Israelkritik als Antisemitismus apostrophieren sollte. Man kann aber zugleich nicht ausschließen, dass auch solche Elemente eine Rolle spielen.
Ich habe aber auch nicht den Eindruck eines antiisraelischen Konsenses gewonnen. Es gibt zwar eine Israelkritik, zum Teil eine höchst berechtigte. Kurz nach den letzten Äußerungen von Jürgen Möllemann hat aber zum Beispiel Außenminister Joschka Fischer einen Gegenangriff gestartet, der alles andere als antiisraelisch war. Er ist israelkritisch, er ist auch palästinakritisch und sieht vor allem mit großer Sensibilität, was sich hier abspielt. Ich muss sagen, er ist für meine Begriffe sogar eine Spur zu israelfreundlich. Ich würde also nicht von einem monolithischen antiisraelischen Konsens sprechen. Ich glaube nicht, dass sich heute in Deutschland ein Konsens breit macht, der Israels Existenzrecht oder Israels existenzielle Interessen in Frage stellt.
Sie haben einmal in einem Kommentar zur deutschen Kritik an Israel ein römisches Sprichwort zitiert: Quod licet Jovi, non licet bovi - »Was dem Jupiter gestattet ist, ist dem Ochsen noch lange nicht gestattet« - und meinten damit, dass die Kritik der israelischen Linken sich im Kontext deutscher linker Kritik ganz anders ausnimmt.
Das Zitat bezog sich auf eine Aussage von Christian Ströbele während des Golfkrieges [1991 hatte Ströbele die irakischen Raketenangriffe auf Israel als die »logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels« bezeichnet, die Red.]. Ich machte den Vergleich mit dem Ochsen und Jupiter, weil ein ähnliches Argument wie Ströbeles von israelischen Linken im Vorfeld des Golfkrieges geäußert wurde. Da stellte sich natürlich die strukturelle Frage, warum denn ein Christian Ströbele nicht sagen darf, was auch israelische Linke sagen. Mein Argument war ja, dass es eine Frage der Konstellation, des Kontextes sei. Es gibt Momente, wo die deutsche Linke eben nicht sagen kann, was die israelische Linke im Hinblick auf den Nahen Osten zu sagen verpflichtet ist. Andererseits bin ich durchaus der Meinung, dass deutsche Linke genau wie alle Linken dieser Welt, respektive alle kritisch und humanistisch denkenden Menschen auf der Welt, fähig sein sollten, Israel zu kritisieren. Das Problem stellt sich dann, wenn antiisraelische oder antizionistische Kritik sich als verbrämter Antisemitismus erweist.
Ist es nicht auffällig, dass bei der Kritik an Israel in Deutschland sehr oft mit Nazi-Vergleichen gearbeitet wird?
Sie haben natürlich recht, dass es in Deutschland eine ganze Menge Entlastungsrhetorik gibt. Das gibt es schon seit langer Zeit. Ich würde nur in Frage stellen wollen, dass das jetzt den Gesamttenor darstellt oder dass sich in dieser Rhetorik der gesamte deutsche Diskurs manifestiert. Denn ich habe sehr unterschiedliche, teils auch sehr differenzierte Auseinandersetzungen mit dem Nahost-Konflikt erlebt.
Diese Art von Rhetorik, bei der Vergangenheit gegenwärtig wird, gibt es nicht nur in Bezug auf den Nahen Osten. Das ist ja genau das Gleiche, was Fischer seinerzeit tat, um den Einsatz deutscher Bomber im Kosovo zu rechtfertigen. Allerdings gilt das auch für die israelische Seite: Kaum hört man aus Deutschland Kritik an Israel, wird alles unter dem Begriff des Antisemitismus subsumiert. Das ist die israelische Instrumentalisierung. Dabei wird davon abgelenkt, was Israel de facto anrichtet, um dem ein rhetorisches Totschlagargument entgegenzuhalten. Gemessen an der Realität stellen die Vergleiche das kleinere Problem dar. Es ist typisch postmodern, wenn man nur noch von den Signifikanten und nicht mehr von der materiellen Realität selbst spricht. Zunächst müsste man sich darüber klar werden, was genau an der Vereinnahmung der Vergangenheit für das Gegenwärtige zu kritisieren sei.
Können Sie beschreiben, wie sich die Selbstmordanschläge auf die israelische Bevölkerung niederschlagen? Hat der Terror es geschafft, das Alltagsleben zu beeinflussen?
Der Terror hat seine Wirkung getan. Terror ist, wie der Name schon sagt, immer eine barbarische, aber auch politisch begründbare Motivation, um einer Zivilbevölkerung Angst und Schrecken einzujagen, damit diese ihre Regierung oder die Obrigkeit dazu treibt, eine andere Politik einzuschlagen. Der Terror hat unter diesen Gesichtspunkten seine Wirkung getan. Es ist heute in Tel Aviv, in Jerusalem, in Haifa, letztendlich überall, weniger sicher und von daher auch weniger angenehm. Man steigt nicht so schnell in den Bus, geht nicht so unbefangen in den Supermarkt, hütet sich auch vor allzu bevölkerten Vergnügungsstätten.
Interessant ist allerdings, dass das in Israel zu keiner politischen Haltung geführt hat, die der Regierung abfordern würde, diesem Zustand ohne Gewalt ein Ende zu schaffen. Denn durch Gewalt kann der Terror nicht bekämpft werden; das liegt ja im Wesen des Terrors, dass er mit Gewalt nicht eliminiert werden kann. Das hat sich ja mit den Militäraktionen der letzten Wochen wieder erwiesen. Ein anderes Problem ist, dass mit der aus dem Terror erwachsenen Angst sehr oft auch manipulativ und ideologisch operiert wird. Man hat manchmal den Eindruck, dass der Scharon-Regierung nichts Besseres wiederfahren kann als der palästinensische Terror, weil Scharon für das, was er seit 35 Jahren zu machen trachtet, nun endlich die vermeintliche Legitimation erhält.